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Interview mit Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Bern, Chefarzt an der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern und Leiter der Abteilung für Molekulare Psychiatrie
Wozu braucht die Schweizer Psychiatrie angewandte Forschung?
Die Schweiz hat eine lange und erfolgreiche Tradition in der angewandten Forschung in der Psychiatrie und Psychotherapie. Wo steht sie derzeit und wohin geht die weitere Entwicklung aus der Sicht der Universitäten? Nach einer anfänglich grossen Begeisterung für neurowissenschaftliche Forschung wird aktuell die anwendungsorientierte Versorgungs- und Therapieforschung wiederbelebt und mit den Neurowissenschaften besser verknüpft.
Karl Studer: Du gehörst zur jungen Generation der Schweizer Forscher und beobachtest sicher die Situation an unseren Universitäten und die Trends in der internationalen Forschergemeinschaft. Was fällt Dir dabei auf?
Gregor Hasler: Der Erfolg und die grosse Akzeptanz der Neurowissenschaften, darunter insbesondere die bildgebenden Verfahren, die Psychoendokrinologie und die Neurogenetik, haben die psychiatrische Forschung grundlegend verändert. Traditionelle, klinisch-psychopathologische Fragestellungen, Verlaufsuntersuchungen ohne biologische Marker und sozialpsychiatrische Themen sind unter Druck geraten.
Dieser Wandel und die Ausrichtung auf neurobiologische Themen hatten den Nachteil, dass sich die Distanz zwischen der Forschung und der psychiatrischen Praxis zunehmend vergrössert hat. Das Interesse an den Fragen der psychiatrischen Versorgung nahm ab. Soziale Probleme mit anhaltender Wichtigkeit wie Stigmatisierung, Armut und Vereinsamung gerieten aus dem Blickfeld. Man wollte die Patienten nicht besser versorgen und in die Gesellschaft einbetten, sondern ihre Krankheit mit biologischen Methoden behandeln und heilen. Leider blieben die grossen Erfolge dieser Forschungsstrategie bisher aus. Das Hirn ist komplexer, als wir es uns vorgestellt haben. Insbesondere ist es uns nicht gelungen, die Diagnostik massgebend mit Biomarkern zu verbessern. Dies ist aber die Voraussetzung für die erfolgreiche neurowissenschaftliche Therapieentwicklung. Dabei geht es ja darum, die Therapie auf spezifische Krankheitsprozesse abzustimmen. Das ginge nur mit einer biologisch fundierten Diagnostik. Aber selbst bei den Demenzen, bei denen wir gewisse genetische und biologische Risikofaktoren kennen, ist der grosse Durchbruch bei der Behandlung bisher ausgeblieben.
Das Resultat davon ist, dass die klinische Tätigkeit nach wie vor durch soziales und psychotherapeutisches Engagement charakterisiert ist, und durch Medikamente, deren Vorläufer vor über 50 Jahren zufällig entdeckt wurden. Der Erfolg der neurowissenschaftlichen Psychiatrie ist gering, aber nicht null. Denken wir nur an die Ketamin-Behandlung bei Depression, die auch stark anti-suizidal wirkt. Neue Antidepressiva wie Agomelatin und Vortioxetin haben erstaunlich wenige Nebenwirkungen. Bei den Depotpräparaten für die Schizophreniebehandlung gibt es neue Optionen. Ferner zeigen sich gewisse Erfolge bei der Behandlung mit transkranieller Magnetstimulation.
KS: Wie ist die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Forschungsstätten in der Schweiz?
GH: Wir haben kleine, aber feine Forschungsteams an den einzelnen Universitäten mit internationaler Ausstrahlung. Eine eigentliche, systematische Koordination untereinander gibt es nicht. Häufig lernen wir die anderen Schweizer Forscher bei internationalen Kongressen kennen, die nicht nur für die Karriere des Einzelnen wichtig sind, sondern auch für den fachlichen Austausch mit Kollegen aus aller Welt. Aber auch hier ist Vielfalt Reichtum.
KS: Was sind die neuen Treiber der Versorgungsforscher derzeit?
GH: Kräftige Unterstützung erhält die Versorgungsforschung durch namhafte Beträge aus den Programmen der Horizon 2020 der EU, vom Nationalfonds mit dem NFP 74 («Versorgungsforschung im Gesundheitswesen») und den damit verbundenen Geldern sowie durch Stiftungsgelder der SAMW. Dass der neue Präsident des Nationalfonds, Matthias Egger, selbst ein anerkannter Versorgungsforscher ist, hebt die Bedeutung dieser Forschung hervor. Die Politik und die Bevölkerung sowie die Sozialwissenschaften erwarten von der psychiatrischen Forschung vermehrt neue Erkenntnisse und Therapieangebote zur Unterstützung der psychischen Gesundheit. Wissenschaftliche Einsichten ohne praktische Bedeutung verlieren an Wert. Das American Journal of Psychiatry, eine führende Zeitschrift der Psychiatrie, will keine Pathophysiologie-Studien mehr veröffentlichen, sondern nur noch Studien, bei denen eine Therapieoption untersucht wird.
KS: Welches sind die Folgen für die Universitäten?
GH: Versorgungs- und Therapieforschung sind sehr gefragt. Gleichzeitig nimmt die klinische Orientierung der Grundlagenforschung zu. Diese Entwicklungen bieten eine grosse Chance, die wir nicht verpassen sollten. Konkret heisst dies, dass wir die Zusammenarbeit und die Vernetzung zwischen angewandter und Grundlagenforschung vorantreiben und die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und technischen Hochschulen verbessern müssen, um das Potential transnationaler Forschung auszuschöpfen.
Auch die Vernetzung mit den psychosozialen Disziplinen – historisch eine Stärke der Schweizer Psychiatrie – wird bedeutsamer. Die führende Wissenschaftszeitung Nature betont in ihren einflussreichen Editorials immer wieder, dass Naturwissenschaftlicher vermehrt Fachleute aus den Sozialwissenschaften und den Geisteswissenschaften einbeziehen sollten, um die Fragestellungen besser auf soziale und menschliche Bedürfnisse abzustimmen und deren gesellschaftliche Relevanz zu steigern. In der Medizin gibt es Patienten- und Betroffenen-Gruppen, die Forschungsprojekte aus ihrer Sicht begutachten. Auch das ist eine sinnvolle Massnahme, um die Bedeutung und Nützlichkeit der klinischen Forschung zu verbessern.
KS: Welches sind die grossen Themen, die beforscht werden sollen?
GH: Der relative Misserfolg der klinischen Neurowissenschaften hat zu einer Wiederbelebung der Versorgungsforschung geführt. Sie ist nun der aktuelle, internationale Megatrend in der klinischen Forschung. Es ist im Grunde die alte Idee: Wenn wir die psychiatrischen Krankheiten biologisch und molekulargenetisch nicht verstehen, können wir immerhin die Versorgung mit verfügbaren Therapien verbessern. Folgendes Beispiel illustriert diese Idee: Obwohl wir den Zusammenhang zwischen der Hirnentwicklungsstörung bei Schizophrenie und der Omega-3-Fettsäure nicht vollständig verstehen, können wir doch die Wirksamkeit von Omega-3-Fettsäure auf die Hirnentwicklung bei vulnerablen, jungen Menschen in grossen klinischen Versuchen erforschen. Mit diesem Forschungsansatz haben wir ja viele Psychopharmaka entdeckt, deren Wirksamkeit wir ursprünglich nicht kannten und erst im Nachhinein entdeckt haben. In den Anfängen der neurowissenschaftlichen Psychiatrieforschung ging der Informationsfluss vorwiegend vom Mensch zum Labortier, oder neuenglisch: «bed to bench». Dann hat sich die Richtung geändert: «bench to bed», vom Labor zum Spitalbett. Aktuell haben wir Kliniker wieder mehr Gelegenheit, Impulse an die Grundlagenforschung zu geben. Andererseits beschäftigen sich Grundlagenforscher zunehmend mit der Frage, wie unsere psychiatrische Diagnostik aussehen müsste – zum Beispiel im RDoC-Projekt –, um die Zusammenarbeit zwischen Labor und Klinik zu verbessern.
Teil der neuen versorgungsorientierten Forschung ist die Wiederentdeckung von Umweltrisikofaktoren: Arbeitslosigkeit, Stigma, Kindheitstrauma, Armut und sozialer Ausschluss. Dieser Trend hat wiederum die Neurowissenschaften inspiriert. Die aktuell ganz heissen Fachgebiete wie Epigenetik, Neuroimmunologie und die Erforschung der Darmflora stellen die Interaktion zwischen Umwelt und Organismus ins Zentrum. Mittels Epigenetik wird die grosse Bedeutung sozialer Risikofaktoren wiederentdeckt. Mikrobiologie und Neuroimmunologie verweisen auf unseren engen Bezug zur Umwelt, die wir immer mehr und immer schneller verändern.
Umweltrisikofaktoren – und vermutlich auch genetische Risikofaktoren – ändern sich über die Zeit. Die engen familiären Beziehungen, die Freud grossartig beschrieben hat und welche die Schuldgefühle und die Verdrängung sexueller Impulse förderten, sind nur noch selten das dominante Thema in Psychotherapien. Migration, soziale Diskriminierung, Vereinsamung und Schamgefühle sind an ihre Stelle gerückt. Ich habe über diesen Wandel der Umweltrisikofaktoren ein Buch geschrieben, das im Frühling mit dem Titel «Resilienz: Der Wir-Faktor. Gemeinsam Stress und Ängste überwinden» im Schattauer-Verlag erscheinen wird. Mit meiner Forschungsgruppe untersuchen wir mit epigenetischen Methoden diese neuen Umweltherausforderungen in Bezug auf die Resilienz und das Risiko, stressabhängige psychische Störungen zu entwickeln.
Die Nosologie bleibt eine grosse Herausforderung. Traditionelle Kategorisierungen werden mit transdiagnostischen, dimensionalen Konzepten ergänzt. Die Komorbidität psychischer Störungen untereinander und zwischen psychischen und körperlichen Krankheiten erhält mehr Aufmerksamkeit. Die Früherkennung psychiatrischer Krankheiten ist meines Erachtens von grösster Bedeutung, weil die Chance viel grösser ist, schwere psychiatrische Krankheiten zu verhindern, als das Vollbild der Krankheiten zu behandeln. Dies gilt vor allem für die Schizophrenien und die Demenzen. Neue Erfassungsmethoden von aktuellen psychischen Zuständen und psychosozialen Faktoren – ecological momentary assessments, zum Beispiel mit Smartphones – haben ein grosses Potential. Diese Methoden könnten die Psychopathologie und die Beforschung von Umweltrisikofaktoren revolutionieren.
Ungünstige ökonomische Entwicklungen und die eher abnehmende Solidarität mit den Schwachen in unserer Gesellschaft fordern die Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen heraus. Gleichzeitig hat die Versorgungs- und Rehabilitationsforschung gerade in diesem Bereich eindrückliche Fortschritte erzielt, zum Beispiel im Bereich des supported employments («first place, then train»-Grundsatz). Hier gilt es, die wissenschaftlichen Einsichten in die Praxis umzusetzen und die Implementierung wissenschaftlich zu begleiten. Die Rehabilitationsforschung sollte sich nicht nur mit schwerkranken Menschen auseinandersetzen, sondern auch mit leichteren Stress-Störungen, die in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit an Bedeutung gewinnen. In meiner Arbeitsgruppe entwickeln wir eine Intervention, um das Stigma gegenüber depressiven Menschen bei Arbeitgebern und Personalfachpersonen zu senken. Auf die Resultate bin ich gespannt.
Die politische Steuerung des Gesundheitswesens bedarf einer wissenschaftlichen Kontrolle und mehr Konsistenz. Lange galt der Grundsatz «ambulant» vor «stationär». Nun werden aber finanziell vor allem die stationären Angebote gefördert. Institutionelle ambulante und tagesstationäre Einrichtungen verkommen zum Verlustgeschäft. In politischen Kreisen herrscht viel Begeisterung in Bezug auf die aufsuchende Psychiatrie, ohne die Kosten und das Kosten-Nutzen-Verhältnis genügend zu berücksichtigen. Eine bessere wissenschaftliche Fundierung der psychiatrischen Versorgung würde allen nützen, der Gesellschaft sowie den Betroffenen.
In der Psychotherapieforschung tut sich einiges. Wir reden von der dritten Welle der Verhaltenstherapie. Dies ist nicht nur eine Worthülse, sondern entspricht einer echten Innovation. Achtsamkeit und Metakognition sind besonders spannende Bereiche, in welchen es auch zunehmend Einsichten aus den Neurowissenschaften gibt. Die erstaunlich gute Wirkung von Internettherapien ist ebenfalls ein wichtiger Befund. Wir sollten diesen Erfolg zum Anlass nehmen, die therapeutische Beziehung neu zu erforschen, um die Rolle und das Potential der direkten sozialen Interaktion im psychotherapeutischen Prozess besser zu verstehen. Die zunehmende Anzahl von Flüchtlingen und die steigende Suizidrate in den USA sollten uns zu denken geben. Suizidforschung und Psychotraumatologie können wesentlich dazu beitragen, diese Herausforderungen in Bezug auf die psychische Gesundheit zu bewältigen.
KS: Was möchtest Du der SGPP noch auf den Weg geben?
GH: Ich wünsche mir mehr Optimismus, Begeisterung, Zusammenhalt und Selbstvertrauen unter Psychiaterinnen und Psychiatern, und mehr Vernetzung mit unseren Nachbardisziplinen, einschliesslich der somatischen Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Die Psychiatrie ist in diesem Geflecht der Wissenschaften eine Schlüsseldisziplin. In unserem Fach laufen klinische Expertise, soziale Herausforderungen, gesellschaftliche Bedürfnisse und Innovation der Grundlagenfächer zusammen. Die Psychiatrie ist eine Brücke zwischen Neurobiologie und psychosozialen Wissenschaften. Wir sollten diese grosse Bedeutung unseres Faches ausstrahlen und besser kommunizieren.
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Dr. med. Karl Studer
Praxis im Klosterhof
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