Editorial

100 Jahre SANP

Vererb ung der Schizophrenie

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2017.00519
Publication Date: 31.10.2017
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2017;168(07):192-195

Silke Bachmann

Clienia Littenheid AG, Schweiz

In dem Beitrag «Mendelismus bei Psychosen, speziell bei der Schizophrenie» setzt sich Paul Eugen Bleuler (1857–1939) mit Rüdins Schrift «Zur Vererbung und Neuentstehung der Dementia praecox» auseinander.

Bleuler war zum Zeitpunkt der Abfassung, 1919, seit 19 Jahren als Direktor am Burghölzli und ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich ­tätig.

Ernst Rüdin (1874–1952), ein schweizerischer Psychiater, lebte ab 1911 überwiegend in Deutschland und wurde 1912 deutscher Staatsbürger. Er habilitierte bei Kraepelin und befasste sich wissenschaftlich überwiegend mit der «Vererbung von Geisteskrankheiten». In diesem Zusammenhang und als späteres NSDAP Mitglied spielte er eine wesentliche Rolle bei der Abfassung des Gesetzes zur «Verhütung erbkranken Nachwuchses». Rüdin verlor 1945 das Schweizer Bürgerrecht [1].

Bleuler würdigt die Arbeiten Rüdins, die rein dominant-rezessiven Erbgängen bei Psychosen widersprechen. Mit der Methodik des Arztes und Statistikers Wilhelm Weinberg hatte Rüdin 701 Familien bzw. deren 4823 Kinder mit der Frage nach Häufungen von Psychosen unter Geschwistern untersucht [2, S. 20]. Falls ein Familienmitglied erkrankt war, bestand für die ­übrigen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Trotz dieses erhöhten Risikos blieb die absolute Zahl an Krankheitsfällen deutlich unter dem, was nach den Gesetzen Mendels zu erwarten gewesen wäre.

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Abbildung 1: Erste Seite des Artikels: Bleuler E. Mendelismus bei Psychosen, speziell bei der Schizophrenie. Schweiz Arch ­Neurol Psychiatr. 1917; (1): 19–40. Der komplette Text kann als PDF auf der Website www.sanp.ch heruntergeladen werden.

Ausserdem fand Rüdin ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für Schizophrenie, wenn die Eltern an anderen psychischen Erkrankungen litten. Damit erbrachte seine Forschung erstmals ein starkes Argument gegen ein der Schizophrenie zugrunde liegendes «monohybrides mendelsches Merkmal» [2, S. 21], also gegen den im Titel so genannten «Mendelismus».

Bleuler schliesst, dass es «kein einheitliches Gen der Schizophrenie» gebe [2, S. 23], er vermutet einen «polymorphen» Erbgang oder das Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Anschliessend widmet er sich der Frage, ob psychische Erkrankungen nach Normen ­ablaufen, was er verneint. So dauere die Entwicklung ­einer Schizophrenie unterschiedlich lange, viele später Erkrankte seien über Jahrzehnte hinweg auffällig (S. 25), aber nicht eindeutig erkrankt. Mit einem Plädoyer für fliessende Übergänge setzt sich Bleuler von Rüdin ab und formuliert sehr deutlich: «Ich kann die Kühnheit Rüdins nicht verstehen, wenn er behauptet, dass ein Mensch mit grundloser Eifersucht (…) sicher nicht schizophren sei.» (S. 26–27). Unter dem Einfluss Eugen Bleuers entwickelt sich im Burghölzi ein weiter oder zu der Zeit der weiteste Begriff von Schizophrenie, erwähnt sei auch der Begriff «Schizophreniegruppe» [3]. Es komme selten zu Fehldiagnosen, so Bleuler. Die endgültige Unterscheidung der Formen voneinander erwartet Bleuler von der Genetik (S. 28). Andererseits bleibt für ihn offen, was ­eigentlich vererbt wird. Ist es die «klinische Erscheinungsform»? Ist es die Anlage, irgendwann im Leben zu erkranken, wozu es möglicherweise zusätzlicher äusserer Faktoren bedarf? Ist es «nur» eine Art erhöhter ­Sensibilität, auf äussere Einflüsse zu reagieren (S. 29)? Führen also genetische oder Umweltfaktoren zur Manifestation der Erkrankung oder eine Kombination der beiden, und wie sähe die Kombination aus? Aufgrund dieser ­Fragen unterscheidet Bleuler «Erb- und Sichtpsychose» (S. 30), also Geno- und Phänotyp, die nicht in kausaler Beziehung zueinander stehen.

Bleuler fasst zusammen, warum Rüdins Arbeiten zwar zeigen, dass die Mendelschen Gesetze auf die Vererbung der Schizophrenie nicht anwendbar sind, aber dennoch die Fragen nach dem Einfluss der Genetik nicht beantworten. Es fehle ein «gut abgegrenzter Begriff» von der Erkrankung, eine sichere diagnostische Begrenzung – auch der einzelnen Schizophrenieformen – sowie das Wissen um einfache oder zusammengesetzte Erbgänge; Milieueinflüsse dürften weder quantitativ noch qualitativ erkennbar sein und die Krankheit dürfe sich nicht «neu erzeugen», sprich spontan entstehen [2, S. 32–35].

Aus heutiger Sicht ist der Beitrag Bleulers seiner Zeit deutlich voraus. Folgende Gründe lassen sich dafür anführen.

Bleuler spricht sich klar für eine genetische Grundlage der Schizophrenie bzw. der Gruppe der Schizophrenie aus. Heute wird der genetische Anteil mit 64–81% [4] angegeben, wobei Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, dass das Erkrankungsrisiko mit zunehmend engerem Verwandtschaftsgrad zu ­einer betroffenen Person zunimmt.

Die Erkrankungen, so Bleuler, werden nicht durch ein einzelnes oder eine kleine Anzahl Gene vererbt. Gen-Kombinationen (auch beteiligt an anderen psychischen Erkrankungen) könnten der Schizophrenie zugrunde liegen, «mehrere Gene sich zum Maximum einer Erscheinung summieren» [2, S. 34]. In den vergangenen Jahrzehnten untersuchten Kopplungs­studien Regionen auf Chromosomen, die gemeinsam vererbt werden, bei Betroffenen und Gesunden im Vergleich. Es folgten die Kandidatengenstudien, in denen «single nucleotide polymorphisms» auf Genebene verglichen wurden. Aus dieser Phase rühren Erkenntnisse über Gene, die bei der Schiozphrenie zu finden sind und mit den dopaminergen, serotonergen und glutamatergen Transmittersystemen sowie dem Immunsystem und der neuronalen Entwicklung in Zusammenhang stehen.

Vor 10 Jahren machte ausserdem die technische Entwicklung einen deutlichen Sprung möglich, nämlich das hypothesenfreie Testen durch genomweite Assoziationsstudien. Ein internationales Konsortium untersuchte ca. 37 000 Patienten/innen und ca. 113 000 ​­Kontrollpersonen. Sie ermittelten 118 signifikante Polymorphismen bzw. 108 unabhängige Loci, besonders ist hier der Major Histocompatibility Complex (MHC) zu erwähnen [4]. Diese beachtlichen Ergebnisse haben für die einzelnen Betroffenen jedoch eine weniger ­grosse Bedeutung, da die Signifikanzen bzw. Odd’s ratios gering sind.

Für die Einzelnen relevanter sind die Ergebnisse von Studien zu strukturellen Variationen oder «copy ­number variations», die neu aufgetretene, strukurelle Genveränderungen wie Mikrodeletionen und –duplikationen sichtbar machen. Diese genetisch mit-/­bedingte Form der Schizophrenie, die nicht auf einem Erbgang beruht, hat Bleuler ebenfalls schon vorausgesehen, indem er eine spontane Entstehung in Erwägung zieht («neu erzeugen» [2, S. 35]). In dem Zusammenhang seien auch Geburtskomplikationen genannt, die beispielsweise durch Hypoxie zu einer erhöhten – nicht genetisch bedingten – Vulnerabilität führen [5].

Laut Bleuler ist es nicht möglich, von der Sicht- auf die Erbpsychose zu schliessen [2, S. 30]. Damit meint er, dass der Phänotyp keine Rückschlüsse auf den Genotyp zulässt. Diese Erkenntnis hat sich seither – u.a. aufgrund der oben zitierten Studien – gefestigt.

Weiterhin hat sich Bleulers Annahme, dass es «aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht die manifeste Krankheit ist, die vererbt wird, sondern ein ­Etwas» [2, S. 32], mittlerweile für viele psychische Erkrankungen bestätigt. Bleuler spricht von Milieu-­einflüssen, die die Krankheit mitbedingen oder manifest werden lassen. Die Graduierung könne in den mitbedingenden oder auslösenden Momenten zu finden sein. Bleuler geht sogar so weit, zu sagen: «Es sind auch Milieueinflüsse denkbar, die den Ausbruch der Krankheit verhindern» (S. 33). Bis heute wissen wir in der Regel nicht, warum eine psychotische Erkrankung zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt. Als Klinikerinnen und Kliniker beantworten wir diese Frage den Betroffenen, ihren Angehörigen und uns selber gerne mit dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell bzw. dem bio-psycho-sozialen Modell [6, 7]. Diese Modelle lassen Raum für alle denkbaren biologischen und psychosozialen Faktoren, die im Einzelfall eine Rolle spielen. Im klinischen Alltag wird dem Bedürfnis nach Kausalität so zumindest teilweise Rechnung getragen. Ganz aktuell ist der Gedanke, dass Einflüsse aus dem Umfeld die Krankheitsmanifestation verzögern, abmildern oder verhindern können. Dieser Gedanke wurde ab den 1970ern zunehmend relevant und nimmt u.a. unter den Begriffen Resilienz [8] und Salutogenese [9] Einfluss auf den Umgang mit psychisch Erkrankten.

Bleuler erwähnt, dass die Schizophrenie mit einer Latenz bzw. langsam beginnt. Diese Beobachtung wurde mittlerweile durch zahlreiche Studien gestützt. Die vielleicht eindrucksvollsten Untersuchungen konnten zeigen, dass das reguläre pruning (also das Eliminieren von überschüssigen Synapsen) in Pubertät und Adoleszenz bei später Erkrankten gegenüber Gesunden überschiesst [10]. Zu beobachten ist in dieser Zeit oft eine Abnahme der schulischen Leistungen bis hin zu einem «Knick in der Lebenslinie».

Bleuler vermutet, dass sich der vererbte Anteil in 
den «primären», körperlichen Symptomen zeige, die er wiederum als Ausdruck «gehirn­anatomische(r), chemische(r), neurologische(r) Eigentümlichkeit(en)» betrachtet [2, S. 31]. Auch diese Beobachtungen sind mittlerweile klar belegt durch Studien z.B. mittels struktureller und funktioneller Bildgebung [11], zu neurologischen [12] und immunologischen Auffälligkeiten [13].

Die Abgrenzung gegenüber anderen psychischen Erkrankungen als auch gegenüber vollständiger Gesundheit sind laut Bleuler fliessend, er sagt: «Die Grenzen (…) sind sowohl gegen die Gesundheit wie gegen andere Psychosen und die Neurosen hin (…) unsichtbar». Weiter spricht er von «Vererbung mit unendlicher Abstufung in bezug auf die Intensität der Krankheit» [2, S. 26] und zitiert Frau Dr. Minkowska, die «nachgewiesen (habe), dass gewisse ­klinisch als Mischfälle zwischen manisch-depressivem Irresein und Schizophrenie sich darbietende Fälle eine Erbeinheit darstellen» (S. 28). Dieses ­dimensionale Denken wurde zugunsten von grösserer Objektivität und internationaler Vergleichbarkeit mit den Einführungen der Diagnosesysteme DSM und ICD aufgegeben und gewinnt erst seit etwa Anfang des Jahrtausends wieder an Bedeutung, ver­treten von Autoren wie Angst [14]. Ansätze einer ­Integration dimensionaler Aspekte in die kategoriale Diagnostik finden sich im Kapitel Persönlichkeits­störungen des DSM-5 [15].

Bleuler empfahl, in Zukunft belastete und gesunde ­Familien zu untersuchen und die «zukünftigen Schizophrenen genau studieren» ebenso wie die «Charaktere von Kindern (…) und von jüngeren Geschwistern» [2, S. 34], was in den vergangenen einhundert Jahren ­geschehen ist. Ebenso wurde Bleulers Empfehlung ­umgesetzt, zunächst «wahllos alles zu durchforschen» (S. 36), also ergebnisoffene genetische Forschung zu betreiben. Es vergingen fast 100 Jahre, bis einem internationalen Konsortium das hypothesenfreie, genomweite Testen [4] möglich war. An dieser sehr grossen Studie zeigt sich auch, was Bleuler ebenfalls richtig vorausgesehen hatte, dass die notwendige Forschung zur Genetik der Schizophrenien und Psychosen «keine Aufgabe (ist), die der Einzelne lösen kann» (S. 37).

Zusammenfassend und obwohl ein genetischer Faktor in der Genese der Schizophrenie unbestritten ist, behält die Aussage Bleulers, dass «was vererbt wird, (…) unklar (sei)» [2, S. 40], cum grano salis bis heute ihre Gültigkeit, insbesondere, wenn wir die Aussage auf die einzelne erkrankte Person beziehen, die eine sinnstiftende Erklärung für ihre individuellen Schwierigkeiten – aufgrund ihres individuellen Phänotyps im psychosozialen Umfeld – sucht.

Correspondence

Prof. Dr. med. Silke Bachmann
Clienia Littenheid AG
Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
CH-9573 Littenheid
Silke.Bachmann[at]clienia.ch

Literatur

 1 Schweizer Historisches Lexikon, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14607.php; abgerufen am 6.7.2017.

 2 Bleuler E. Mendelismus bei Psychosen, speziell bei der Schizophrenie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1917;(1):19–40.

 3 Bleuler E. Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Giessen: Psychosozial-Verlag; 1911. Neuausgabe 2014.

 4 Rujescu D. Suche nach Risikogenen bei Schizophrenie. Nervenarzt. 2017;88:751–4.

 5 Cannon M, Jones PB, Murray RM. Obstetric Complications and Schizophrenia: Historical and Meta-Analytic Review. Am J Psychiatry. 2002;159:1080–92.

 6 Nuechterlein KH, Dawson ME. A heurisitic vulnerability/stress model of schizophrenic episodes. Schizophr Bull. 1984;10(2):300–12.

 7 Engel GL. Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit. Bern: Huber; 1976.

 8 Nuechterlein KH. Compentent disadvantaged children: A review of research. University of Minnesota: Doktorarbeit; 1970.

 9 Antonovsky, A. Health, Stress and Coping. San Francisco: ­Jossey-Bass Publishers; 1979.

10 Thompson P, Thompson P, Rapoport JL, Cannon TD, Toga AW. ­Imaging the brain as Schizophrenia develops: Dynamic & genetic brain maps. Prim psychiatry. 2002;9(11):40–7.

11 Fornara GA, Papagno C, Berlingeri M. A neuroanatomical account of mental time travelling in schizophrenia: A meta-analysis of functional and structural neuroimaging data. Neurosci Biobehav Rev. 2017;80:211–22.

12 Bachmann S, Degen C, Geider FJ, Schröder J. Neurological soft signs in the clinical course of schizophrenia: results of a meta-analysis. Front Psychiatry. 2014;5:185.

13 Miller BJ, Culpepper N,Rapaport MH.C-Reactive protein levels in schizophrenia: a review and meta-analysis.Clin Schizophr Relat Psychoses. 2014;7(4):223–30.

14 Stassen HH, Scharfetter C, Angst J. Functional psychoses: moleculargenetic evidence for a continuum. In: Marneros, A and Akiskal, HS, eds. The overlap of affective and schizophrenic spectra. ­Cambridge New York Melbourne Madrid Cape Town Singapore
São Paolo: Cambridge University Press; 2007.p.55–78.

15 American Psychiatric Association. Diagnostic and statistical ­manual of mental disorders DSM-5. 2013.

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