
Interview
Interview mit Dr. Alphons Beat Schnyder, Inhaber der Beratungsfirma «Meta-Cultura» in Zürich
Psychiatrische Versorgung in der Schweiz und in den «least developed countries»
Dr. Alphons Beat Schnyder ist als Betriebswirtschafter, Experte für Unternehmenskultur und Mitglied der Verwaltungsräte des Spitals STS (Simmental-Thun-Saanenland) und der Triaplus (Integrierte Psychiatrie Uri, Schwyz und Zug) sowie als Referent im Masterprogramm «Health Management» der Hochschule für Wirtschaft ausgewiesener Kenner des Schweizerischen Gesundheitswesens, insbesondere der psychiatrischen Versorgung. Daneben leistet er Entwicklungshilfe in afrikanischen und laotischen Spitälern.
Karl Studer: Welche Trends beobachtest Du bei der Entwicklung in der psychiatrischen Versorgung derzeit?
Alphons Schnyder: Die Umsetzung TARPSY sowie die Tarifkürzungen im TARMED fordern die psychiatrischen Versorger weiterhin. Wegen des Tarifdrucks auf die stationäre Aufenthaltsdauer werden Patienten in die nicht-stationäre Psychiatrieversorgung und Langzeitpflege verschoben. Aber im TARMED wurden Leistungen in Abwesenheit der Patienten beschnitten. Um Ambulatorien und Tageskliniken kostendeckend betreiben zu können, sind die Psychiatrischen Kliniken von «Gemeinwirtschaftlichen Leistungen GWL» abhängig und damit von der Subventionspolitik der einzelnen Kantone. Eine nationale Lösung zur kostendeckenden Finanzierung intermediärer sozialpsychiatrischer Versorgungsleistungen ist angesichts des Widerstandes der Krankenversicherungen und der starken Lobbyorganisationen im Bundesbern nicht zu erwarten. Und dies obwohl die Gesundheitsdirektorenkonferenz bereits im Jahr 2008 im Rahmen des «Leitfadens Psychiatrieplanung» die Förderung und adäquate Finanzierung des nicht-stationären Bereichs postuliert hat.
Fortschritte sind beim Auf- und Ausbau mobiler Teams in einigen Kantonen sichtbar. Leider besteht hierzu eine riskante Abhängigkeit vom zukünftigen Verhandlungsergebnis mit den Krankenversicherungen, weil ein nationales finanzielles Regulativ fehlt.
Bei der Umsetzung der integrierten Versorgung besteht weiterhin viel Potential. Hier gilt es u.a. die Schnittstellen zwischen Kinder- / Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie sowie Alterspsychiatrie und Langzeitpflege besser zu vernetzen.
KS: Gibt es Unterschiede zu der Entwicklung in der somatischen Versorgung?
AS: In den letzten 25 Jahren lag das Kostenwachstum der Somatik immer deutlich über der Psychiatrie. Innovationen werden u.a. von der Medtech-, Pharma- und ICT-Industrie mit grösserem Schwungrad vorangetrieben. Die Einführung der SwissDRG 2012 hat die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Patienten weiter verkürzt und eine Verlagerung des Versorgungsaufwandes in die Langzeitpflege nach sich gezogen. «Ambulant vor stationär» – seit längerem ein Paradigma der Psychiatrie, wird seit Kurzem in der Somatik vorangetrieben, – wobei es hier in erster Linie um die Verlagerung von gewissen operativen Eingriffen in den ambulanten Bereich geht.
Im Unterschied zur Psychiatrie haben Fachbereiche wie die Herzchirurgie, Onkologie oder Orthopädie keine Probleme bei der Nachwuchsrekrutierung.
KS: Gibt es Unterschiede zwischen den öffentlichen und privaten Anbietern?
AS: In der Somatik ist der Konzentrationsprozess bei den Privatkliniken weit fortgeschritten. Wenige Aktoren dominieren in der Schweiz dieses Marktsegment. Sie verzeichnen die mit Abstand höchsten EBIT-Margen der Branche.
Bei den öffentlichen Spitälern und psychiatrischen Kliniken hat ebenfalls ein weitgehender Konzentrationsprozess stattgefunden. Hier ging es zumeist um einen Zusammenschluss von öffentlichen Anbietern auf kantonaler Ebene. In der Psychiatrie bestehen weiterhin verschiedene unabhängige Privatkliniken.
Punkto Versorgungsqualität werden im Rahmen der Qualitätsmessungen keine wesentlichen Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten Anbietern ausgewiesen.
Grosse Unterschiede gibt es aus meiner Sicht bei der unternehmerischen Verantwortung. Bei kapitalgetriebenen Anbietern spielt die Gewinnmaximierung vielerorts eine dominante Rolle.
KS: Was hat nach Deiner Einschätzung die Privatisierung gebracht ?
AS: Bei der Privatisierung von öffentlichen Leistungsanbietern ging es zumeist um die Auslagerung von Spitälern und Kliniken aus der öffentlichen Verwaltung. In der Regel wurden hierzu Aktiengesellschaften gegründet, die weiterhin im Besitz der Kantone sind und de facto einen Service Public sicherstellen. Gebracht hat es vielerorts ein Loslösen aus schwerfälligen kantonalen Entscheidungsstrukturen sowie mehr Entscheidungsautonomie für die Spitäler und Kliniken.
Im Rahmen der kantonalen Spitalplanung hat es die Politik jedoch weiterhin in der Hand, das Leistungsangebot zu steuern.
KS: Wo sollten in Zukunft die Schwerpunkte gesetzt werden ?
AS: Obwohl im Gesundheitswesen der Schweiz verschiedene Neuerungen eingeführt wurden (z.B. Spitalfinanzierung 2012), konnten bislang nur kleine Effizienz- und Effektivitätsfortschritte erzielt werden. Gründe sind u.a. ein inkonsistentes und unübersichtliches Anreiz-, Planungs-, Steuerungs-, Finanzierungs- und Subventionierungssystem, widersprüchliche Ziele und Interessen der Stakeholder, Blockierung des Reformprozesses auf politischer Ebene sowie fehlende Reformmotivation vieler Aktoren, weil sie mit dem Statusquo gut fahren.
In Zukunft sollten die Schwerpunkte z.B. auf ein national einheitliches, einfaches und transparentes Anreiz-, Steuerungs- und Finanzierungssystem gesetzt werden. Es sollten national gleiche Bedingungen und ein einheitliches Tarif- und Finanzierungssystem für alle ambulanten und stationären Leistungen der Grundversicherung festgelegt werden. Und es sollte ein national einheitliches System für gemeinnützige Leistungen in der Versorgung definiert werden. Ferner sollte z.B. ein integriertes Spital- und Ärztenetzwerk etabliert werden, in dem die verschiedenen ärztlichen Leistungserbringer ergänzend zusammenwirken.
KS: Neben Deinen Tätigkeiten in der Schweiz leistest Du Entwicklungshilfe in afrikanischen und laotischen Spitälern. So bist Du gerade von einem Einsatz für das «Swiss Laos Hospital Project» zurückgekommen. Wo stehen denn die afrikanischen und asiatischen psychiatrischen Versorgungssysteme derzeit?
AS: In den Schwellenländern erfolgte in den letzten Jahren ein starker Aufschwung. Damit einhergehend wurden die psychiatrischen Versorgungssysteme vielerorts ausgebaut und professionalisiert. In den «least developed countries» gibt es meist keine psychiatrischen Versorgungssysteme, die diesen Namen verdienen würden. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden auf der ganzen Welt 450 Millionen Menschen an mindestens einer seelischen Störung. Davon leben 85 Prozent in Ländern mit tiefen und mittleren Einkommen. Im Fall von Krieg oder Naturkatastrophen kann die Anzahl Menschen mit verbreiteten seelischen Leiden wie Depressionen oder Angstgefühlen 25 bis 30 Prozent erreichen, was zwei- bis dreimal mehr ist als in normalen Zeiten. Es besteht ein enormer Mangel an Behandlungsmöglichkeiten. Millionen von psychisch kranken Menschen weltweit bekommen keine Hilfe. So gibt es in Sierra Leone der in Somalia nur einzelne Psychiater. In den meisten Entwicklungsländern gibt es kaum eine Behandlung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dabei ist gerade dort das psychische Leid unvorstellbar gross.
KS: Was schlägst Du der Schweizer Psychiatrieszene vor, und wie könnten diese Vorschläge schliesslich umgesetzt werden?
AS: Jede schweizerische Psychiatrieklinik könnte eine Partnerschaft mit einer Psychiatrieklinik eines «least developed countries» eingehen. Dito könnten psychiatrische Fachverbände und Verbände von Niedergelassenen partnerschaftliche Projekte lancieren. Obwohl die Psychiatrie in der Schweiz Finanzierunglücken aufweist, verfügt sie im Vergleich mit Ländern des Südens über eine formidable Ausstattung an Ressourcen und Knowhow. Entsprechend sehe ich Potential bezüglich Transfer Richtung Süden. In laufenden Spitalpartnerschaften zeigt sich zudem, dass es nicht um eine Einbahnstrasse geht. Mitwirkende bringen von ihren Einsätzen im Süden oft eine andere Blickweise zurück.
KS: Wie sieht der Handlungsansatz aus?
AS: Als Primärfokus sehe ich Bildungsmassnahmen, insbesondere die Vermittlung von medizinischem, pflegerischem und organisatorischem Wissen und Fachkompetenz. Am wirkungsvollsten habe ich die Durchführung von fachlichen Trainings und Teachings vor Ort erlebt. Es geht um eine systemische Stärkung der lokalen Psychiatrieversorgung. Ich finde Knowhowspenden und die gezielte Förderung von Fachkompetenzen sehr wirkungsvoll. Begleitend sind materielle Spenden erwünscht, aber sie sollten nicht im Zentrum stehen.
Der Aufbau von Partnerschaften benötigt Zeit. Zu Beginn geht um den Aufbau von Vertrauen und ein Wahrnehmen der lokalen Bedürfnisse. Entscheidend für den Projekterfolg ist ein nachhaltiger Einsatz. Bewährt hat sich, wenn Einzelpersonen oder Teams wiederkehrend über einen längeren Zeitraum eine Klinik unterstützen.
KS: Wie werden die interessierten Kreise koordiniert?
AS: Ich schlage die Gründung eines «Swiss Mental Healthcare – Cooperation Network» vor. Ziel ist die Stärkung Psychiatrischer Kliniken / der Psychiatrieversorgung im Süden durch Erhöhung der Anzahl Projekte, Einsätze und Mittel für Psychiatrische Klinikpartnerschaften und Klinikprojekte CH – Süd; Zudem kann aus meiner Sicht die Wirkung, Effizienz und Nachhaltigkeit von Projekten / Partnerschaften zwischen Psychiatrischen Kliniken / Verbänden CH – Süd vergrössert werden. Die Mittelvergabe von DEZA im Bereich Psychiatrie sollte erhöht und optimiert werden.
Zur Vermittlung von Partnerschaften sowie zum gegenseitigen Austausch von Informationen und Knowhow würde ich eine Plattform einrichten und webbasierte Information zu allen Fragen im Kontext von Klinikprojekten und -partnerschaften bereitstellen. Dies könnte doch eine wichtige Aufgabe der Psychiatrischen Fachgesellschaften sein.
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Dr. Karl Studer
Praxis im Klosterhof
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