Editorial

Eine Schatztruhe und Fundgrube der deutschsprachigen Nervenheilkunde

Auf den Schultern von Riesen

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2018.00614
Publication Date: 19.09.2018
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2018;169(06):166

Jürg Kesselring

Die Arbeit in unserem SANP wird unter anderem durch seine Geschichte so faszinierend. Constantin von ­Monakow, der erste Professor für Neurologie an der Universität Zürich, hat es 1917 gegründet. Die alten ­Jahresbände finden sich vollständig und bestens ­betreut durch den Bibliothekar Jörg Zemp in der ­wissenschaftlichen Bibliothek der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli. Es ist zu hoffen, dass ­dieser Schatz an Wissen für alle an der Neurologie- und Psychiatriegeschichte Interessierten als Ganzes erhalten bleibt.

Im Archiv des SANP finden sich grundlegende, ­ausführliche Aufsätze zu Themen, die heute genauso aktuell sind wie damals (z.B. Bleuler [1] und von Monakow [2, 3]). Auch die kritisch-anregende Besprechung des heute, da «autistisch-undiszipliniertes Denken» grassiert, besonders aktuellen Buches des einen durch den anderen [4] ist nach wie vor lesenswert. Neuro­logen von heute können sich mit ­Gewinn an von ­Monakows Darlegungen zur seinerzeitigen Art der ­Begutachtung komplexer neuro­logisch-psychiatri­scher Probleme orientieren [5, 6]. Nach den Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg lässt sich etwas von der Wandlung des klassischen Neurologen von Monakow zum differenzierten (auch etwas resignierten) Philosophen nachvollziehen [7].

Auch Texte zu allgemein kulturrelevanten Themen findet man in unserem Archiv, wie «Analyse psychia­trique des Confessions de Jean Jacques Rousseau» [8]. Besonders ausführlich und tiefgründig: Binswangers «Zum Problem von Sprache und Denken» [9] und seine daseinsanalytische Darlegung des legendären «Fall West» über Hunderte von Seiten in verschiedenen ­Abschnitten. Für heutige IKRK-Mitarbeitende wird eine psychiatrische Analyse von Kriegsgefangenen in der Schweiz im Ersten Weltkrieg von Interesse sein [10]. Es gab in der Geschichte des SANP aber auch Verir­rungen, über die nachzudenken sich lohnt, z.B. «Über die Indikation und den therapeutischen Erfolg der ­Kastration bei sexuell Perversen» (1946) [11].

Auch renommierte Grundlagenwissenschafter haben im SANP publiziert. W. R. Hess, der spätere Nobelpreisträger, hat seine grundlegenden und weitsichtigen ­Ansichten zu den Funktionen des vegetativen Nervensystems erstmals hier ausgeführt [12–13] und später ­zusammengefasst [14]. Der spätere Herausgeber der Zeitschrift, die dann 1959–1984 auch «Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie» genannt wurde, Hugo Krayenbühl, legte seine Habili­tations­arbeit über das Hirnaneurysma im SANP ausführlich dar [15]. Sein langjähriger Mitarbeiter und Stellvertreter an der Neurochirurgischen Klinik in ­Zürich, Gerhard Weber, hatte seine erste Arbeit (noch aus dem Pathologischen Institut der Universität Basel) zu einem sehr ungewöhnlichen Fall hier publiziert [16].

Medizinhistorisch interessant ist auch die in fast allen Heften vorkommende Rubrik der Nekrologe: geradezu ein «Who’s who» der Neurologen und Psychiater, die für unsere Fächer die Grundlagen gelegt haben.

Bei der Lektüre im Archiv des SANP ist man immer auch am Aristoteles erinnert: «Der Anfang der Weisheit ist das Staunen». Als heutige Neurologen und Psychiaterinnen in der Schweiz dürfen wir auf den Schultern von Riesen stehen [17].

Literatur

 1 Bleuler E. Die psychologische Richtung in der Psychiatrie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1918;2:270–304.

 2 von Monakow C. Psychologie und Biologie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;4:13–44.

 3 von Monakow C. Biologie und Psychologie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;4:235–76.

 4 von Monakow C. Eugen Bleuler: Das autistisch – undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. Kritische Besprechung nebst eigenen psychologisch-biologischen Betrachtungen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1920;7:167–86.

 5 von Monakow C. Gliom und Schädel-Hirn-Trauma. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924;14:289–300.

 6 von Monakow C. Zur Unfallneurose. Schweiz Arch Neurol ­Psychiatr. 1926;18:284–322.

 7 von Monakow C. Die Syneidesis, das biologische Gewissen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1927;10:56–91.

 8 Demole V. Analyse psychiatrique des Confessions de Jean Jacques Rousseau. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1918;2:270–304.

 9 Binswanger L. Zum Problem von Sprache und Denken. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1926;18:247–83.

10 Repond A. L’hystérie chez les prisonniers de guerre en Suisse. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;3:128–46.

11 Thürlimann R. Über die Indikation und den therapeutischen ­Erfolg der Kastration bei sexuell Perversen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1946;57:153–206.

12 Hess WR. Zur Physiologie der Vasomotoren. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924;14:20–9.

13 Hess WR. Über die Wechselbeziehungen zwischen psychischen und vegetativen Funktionen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924; 15:260–77; 1925; 14:36–55 und 1925; 14:285–306.

14 Hess WR. Das vegetative Nervensystem – Fragen der Organisation, der Begriffe und Bezeichnungen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1943;50:88–92.

15 Krayenbühl H. Das Hirnaneurysma. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1941;47:155–23.

16 Weber G. Über das gleichzeitige Vorkommen von symmetrischem Gehirntumor und Syringomyelie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1944;54:240–8.

17 Merton RK. Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt: Suhrkamp; 1983.

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