
Editorial
Eine Schatztruhe und Fundgrube der deutschsprachigen Nervenheilkunde
Auf den Schultern von Riesen
Die Arbeit in unserem SANP wird unter anderem durch seine Geschichte so faszinierend. Constantin von Monakow, der erste Professor für Neurologie an der Universität Zürich, hat es 1917 gegründet. Die alten Jahresbände finden sich vollständig und bestens betreut durch den Bibliothekar Jörg Zemp in der wissenschaftlichen Bibliothek der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli. Es ist zu hoffen, dass dieser Schatz an Wissen für alle an der Neurologie- und Psychiatriegeschichte Interessierten als Ganzes erhalten bleibt.
Im Archiv des SANP finden sich grundlegende, ausführliche Aufsätze zu Themen, die heute genauso aktuell sind wie damals (z.B. Bleuler [1] und von Monakow [2, 3]). Auch die kritisch-anregende Besprechung des heute, da «autistisch-undiszipliniertes Denken» grassiert, besonders aktuellen Buches des einen durch den anderen [4] ist nach wie vor lesenswert. Neurologen von heute können sich mit Gewinn an von Monakows Darlegungen zur seinerzeitigen Art der Begutachtung komplexer neurologisch-psychiatrischer Probleme orientieren [5, 6]. Nach den Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg lässt sich etwas von der Wandlung des klassischen Neurologen von Monakow zum differenzierten (auch etwas resignierten) Philosophen nachvollziehen [7].
Auch Texte zu allgemein kulturrelevanten Themen findet man in unserem Archiv, wie «Analyse psychiatrique des Confessions de Jean Jacques Rousseau» [8]. Besonders ausführlich und tiefgründig: Binswangers «Zum Problem von Sprache und Denken» [9] und seine daseinsanalytische Darlegung des legendären «Fall West» über Hunderte von Seiten in verschiedenen Abschnitten. Für heutige IKRK-Mitarbeitende wird eine psychiatrische Analyse von Kriegsgefangenen in der Schweiz im Ersten Weltkrieg von Interesse sein [10]. Es gab in der Geschichte des SANP aber auch Verirrungen, über die nachzudenken sich lohnt, z.B. «Über die Indikation und den therapeutischen Erfolg der Kastration bei sexuell Perversen» (1946) [11].
Auch renommierte Grundlagenwissenschafter haben im SANP publiziert. W. R. Hess, der spätere Nobelpreisträger, hat seine grundlegenden und weitsichtigen Ansichten zu den Funktionen des vegetativen Nervensystems erstmals hier ausgeführt [12–13] und später zusammengefasst [14]. Der spätere Herausgeber der Zeitschrift, die dann 1959–1984 auch «Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie» genannt wurde, Hugo Krayenbühl, legte seine Habilitationsarbeit über das Hirnaneurysma im SANP ausführlich dar [15]. Sein langjähriger Mitarbeiter und Stellvertreter an der Neurochirurgischen Klinik in Zürich, Gerhard Weber, hatte seine erste Arbeit (noch aus dem Pathologischen Institut der Universität Basel) zu einem sehr ungewöhnlichen Fall hier publiziert [16].
Medizinhistorisch interessant ist auch die in fast allen Heften vorkommende Rubrik der Nekrologe: geradezu ein «Who’s who» der Neurologen und Psychiater, die für unsere Fächer die Grundlagen gelegt haben.
Bei der Lektüre im Archiv des SANP ist man immer auch am Aristoteles erinnert: «Der Anfang der Weisheit ist das Staunen». Als heutige Neurologen und Psychiaterinnen in der Schweiz dürfen wir auf den Schultern von Riesen stehen [17].
Literatur
1 Bleuler E. Die psychologische Richtung in der Psychiatrie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1918;2:270–304.
2 von Monakow C. Psychologie und Biologie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;4:13–44.
3 von Monakow C. Biologie und Psychologie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;4:235–76.
4 von Monakow C. Eugen Bleuler: Das autistisch – undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung. Kritische Besprechung nebst eigenen psychologisch-biologischen Betrachtungen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1920;7:167–86.
5 von Monakow C. Gliom und Schädel-Hirn-Trauma. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924;14:289–300.
6 von Monakow C. Zur Unfallneurose. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1926;18:284–322.
7 von Monakow C. Die Syneidesis, das biologische Gewissen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1927;10:56–91.
8 Demole V. Analyse psychiatrique des Confessions de Jean Jacques Rousseau. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1918;2:270–304.
9 Binswanger L. Zum Problem von Sprache und Denken. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1926;18:247–83.
10 Repond A. L’hystérie chez les prisonniers de guerre en Suisse. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1919;3:128–46.
11 Thürlimann R. Über die Indikation und den therapeutischen Erfolg der Kastration bei sexuell Perversen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1946;57:153–206.
12 Hess WR. Zur Physiologie der Vasomotoren. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924;14:20–9.
13 Hess WR. Über die Wechselbeziehungen zwischen psychischen und vegetativen Funktionen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1924; 15:260–77; 1925; 14:36–55 und 1925; 14:285–306.
14 Hess WR. Das vegetative Nervensystem – Fragen der Organisation, der Begriffe und Bezeichnungen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1943;50:88–92.
15 Krayenbühl H. Das Hirnaneurysma. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1941;47:155–23.
16 Weber G. Über das gleichzeitige Vorkommen von symmetrischem Gehirntumor und Syringomyelie. Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 1944;54:240–8.
17 Merton RK. Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt: Suhrkamp; 1983.
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