Book review

Mario Gmür: Psychiatrie in Bewegung. Wortmeldungen 1970–2017

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2019.00589
Publication Date: 15.02.2019
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2019;170:w00589

von Salis Thomas

Basel: Münster Verlag 2018.

288 Seiten.

Gebunden mit Schutzumschlag.

Preis: Fr. 28.00.

ISBN: 978-3-905896-94-7.

Der Witz hat ja immer eine Tendenz, von der Zote bis zur vernichtenden Aggression, und das Lachen, manchmal geradezu explosiv, befreit uns von einer Spannung, die sich im Lauf des Zuhörens oder schon vorher aufgebaut hat. Witzige Reime («die reine Schweiz / nicht der Schweine Reiz») (S. 228) gehören zu den besonderen Begabungen Mario Gmürs, eines Kollegen, der die seltenen Gaben reichhaltigen Wissens und geselliger Unterhaltsamkeit in sich vereint und als Schriftsteller unter anderen ärztlichen Schriftstellern herausragt.

Sein neuestes Buch mit psychiatrischem Inhalt (Abb. 1) ist hier anzuzeigen, da es uns und unseren jüngeren Kollegen einige Lektionen in lokaler und allgemeinerer Psychiatriegeschichte in unterhaltsamer Weise vermittelt. Das Wort «Bewegung» im Titel verweist auf die in Zürich besonders «bewegten» 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts. In dieser Zeit bescherte eine kritische Welle der Psychiatrie in unseren Breiten Reformen, die bis heute eine wohltätige Wirkung zeitigen. Gleichzeitig formierte sich der Widerstand gegen die Ideologiekritik in den Institutionen, wobei im vorliegenden Buch besonders auf die forensische Psychiatrie hingewiesen wird. Das Buch enthält eine Sammlung von Publikationen, in denen der Autor zu Themen wie Heroinsucht und Mediengesellschaft, Gewalt und Glücksspielsucht Stellung nimmt. Unter den Überschriften «Überzeugung», «Narzissmus» und «Biographie» lesen wir originelle Ansichten und Überlegungen zu allgemeineren Themen, die freilich stets einen Bezug zur Psychiatrie und zur Psychoanalyse haben. Glanzstücke sind «Die «Probevorlesung» und «Die letzten Hosen von Canetti».

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Abbildung 1
Buchcover.

Unter den biographischen und autobiographischen Texten findet sich die Beschreibung des mütterlichen Grossvaters («stammte aus Russland und […] war Jude») (S. 232) der in der solothurnischen «Rosegg» Sekundärarzt war. «Als Jude […] umgeben von lauter Katholiken» hielt er für den Fall des Einmarsches der Deutschen im Weltkrieg eine Giftspritze bereit, «damit er sich den goldenen Schuss setzen konnte, bevor die Anstaltswärter ihn aufhängen würden» (S. 234). Die eingeladenen Kinder erlebten dort jeweils ein echtes «Weihnachtserlebnis für den Schulaufsatz nach den Ferien». Die Grosseltern wurden u.a. von fünf Patienten bedient: Büglerin, Putzfrau, Spielsachenreparateur für die Enkelkinder, Eimerleerer und Bibliothekar. Gegen eine Patientin, eine Pseudologin, gelang Mario eine Einkreisung im Neuneziehen, sie klagte dann, es sei gar nicht schön, wenn man eingeschlossen sei – «Schamröte stieg mir ins Gesicht. Ich merkte erst jetzt, was ich mit Hitlers Frau angestellt hatte» (S. 239).

Das Interview in der Wochenzeitung aus dem Jahr 2014 (S.260 ff.) ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Zur Autobiographie gehört die Aussage des Sohnes eines Marxisten, «[...] ich meine aber, dass der Kommunismus in der Praxis ein grosses, spiessiges Erziehungsheim war. Der Habitus von Steifheit, Biederkeit und Bravheit war vor 1968 hüben und drüben vorhanden» (S. 266).

Die Einführung der kodifizierten Diagnostik in den 90er Jahren bezeichnet Gmür als «restaurative Phase», als «Kulturrevolution» – «Die Seele ist abgeschafft, Psychoanalyse und Neurosenlehre sind in den Giftschrank versorgt worden». Nachdem 1981 durch die Einführung des Gesetzes über den fürsorgerischen Freiheitsentzug noch ein «grosser Liberalisierungsschritt» vollzogen und damit die «Versenkungspsychiatrie aufgehoben wurde», habe sich seither auf einem Umweg eine neue repressive Haltung installiert: mit der «Psychiatrisierung des Strafrechts, die auch eine Verstrafrechtlichung der Psychiatrie ist» (S.262). Man werde «nicht mehr für die Tat bestraft, sondern für seine Persönlichkeitsmerkmale». [...] Den höchsten Zustand der Empörung erreiche ich, wenn jemand unschuldig verurteilt wird, [und dies ganz besonders] in einer Demokratie und einem Rechtsstaat».

Die Klinik des «Medienopfersyndroms» wird mit philosophischen Erwägungen unterfüttert – der Autor zeigt sich auch da beschlagen. Im entsprechenden Abschnitt endet er mit der Analogie sozialer und kultureller Tendenzen im postmodernen Zeitalter mit den biologischen Vorgängen bei der Krebserkrankung. Medienopfer sind der «vernunftlosen Freizügigkeit und Unbändigkeit der Texte ausgeliefert», und das sieht Gmür im Zusammenhang mit der «Dezentralisierung vom Subjekt zu den Strukturen und Strukturbestandteilen; das sei «eine Folge der überhandnehmenden isovalenten Gleichmacherei, Entindividualisierung und Entichung.» Diese Vorgänge können «ein ganzes Weltdorf in die Situation des Zauberlehrlings bringen, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird» (S.121).

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