Book review

Marianne Leuzinger-Bohleber, Nora Hettich: «Fremd bin ich eingezogen…». STEP-BY-STEP: Ein Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in einer Erstaufnahmeeinrichtung

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03069
Publication Date: 10.04.2020
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03069

von Salis Thomas

Giessen: Psychosozial-Verlag; 2018.

209 Seiten.

Preis: Euro 24,90.

ISBN-13: 978-3-8379-2841-9.

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Abbildung 1
Buchcover

Neben der Ablehnung der Flüchtlinge, die in Deutschland nicht anders als in anderen Ländern in der verbreiteten Manifestation von Rassismus und Rechtextremismus sichtbar wird, ist die «Willkommenskultur» etwas Besonderes. Dass die Migranten nicht nur willkommen sind, sondern Probleme machen, nicht einfach wegen ihrer Vielzahl, sondern weil sie zum Grossteil als Traumatisierte hier eintreffen, kann und muss leider vorausgesetzt werden. Leuzinger- Bohlebers Buch, das in Zusammenarbeit mit Nora Hettich und sehr zahlreichen Mitarbeitern und weiteren Helfern zustande gekommen ist, gibt uns einen Einblick in die Problematik.

Vorerst möchte ich aber noch auf einen anderen Text hinweisen, der ebenfalls im Psychosozialverlag erschienen ist, weil er die Probleme auf dem geschichtlichen Hintergrund der Traumatisierung ganzer Völker im 20. Jahrhundert abhandelt: H-J. Wirth1 geht vertieft auf diese Besonderheit ein, indem er auf den Zusammenhang mit der «historisch völlig neuen Form kollektiver Traumatisierung» hinweist, von der die einzelnen Nationen und Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Weise (in verschiedenen Rollen), aber gleichermassen überwältigend betroffen seien. Schon die Zeugenschaft an Gewalttaten, aber auch die individuelle Traumatisierung finde eine Ausbreitung ins Kollektive. Die Mitscherlichs hatten 1967 eine Abwehr mittels einer «kollektiven» Verleugnung der Vergangenheit diagnostiziert. Wirth fügt dem die Abwehr der Atomgefahr hinzu. Diese äusserte sich in der Euphorie für die «friedliche Nutzung» der Atomspaltung, die, so Wirth, die sozialpsychologische Funktion hatte, «nicht nur das atomare Trauma von Hiroshima und Nagasaki ungeschehen zu machen, sondern auch unter die Schrecken des zweiten Weltkriegs einen Schlussstrich zu ziehen». Wie es dann, vor allem in Deutschland, zur Verarbeitung des Traumas und zur Aufarbeitung der Geschichte gekommen ist, führt der lesenswerte Essay überzeugend aus und schliesst mit der vorsichtig optimistischen Feststellung, dass Deutschland sich mit der Entwicklung einer «besonderen Sensibilität für existenzielle Gefährdungen» (einschliesslich der Flüchtlingskrise) eine gute Ausgangsbasis geschaffen habe, «der Idee einer stärkeren Integration Europas wieder mehr emotionale, moralische und intellektuelle Substanz und Anziehungskraft zu verleihen».

Nun ist das Buch von Leuzinger-Bohleber und Hettich gerade ein Beleg für die tatsächliche Existenz der Fähigkeit und des Willens, eine solche Sensibilität praktisch einzusetzen, indem gegen alle vorhandenen Widerstände ein grosses Projekt realisiert wird, um die Probleme, die den Flüchtlingen und ihren Gastgebern erwachsen, in den Griff zu bekommen.

Nebenbei kann hier darauf hingewiesen werden, dass die Einsichten in ähnlicher Weise und offenbar unahbhängig teilweise zur Anwendung gelangt sind, die schon Jean-Claude Métraux empfiehlt. (Seine Bücher wurden in dieser Zeitschrift besprochen.2) Ich denke hier vor allem an den Aspekt der «Gabe»: Es kommt drauf an, dass die Betroffenen selbst etwas zurückgeben können, wenn sie so vieles vom Gastland erhalten.

«Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus» ist der vollständige Liedanfang, von dem für den Buchtitel nur die Hälfte verwendet wird; die Schubertsche Melancholie des abgewiesenen Liebenden ist freilich dazu geeignet, die Tragik der zahllosen Gescheiterten der weltweiten Migration fühlen zu machen. Die Schilderungen einzelner Fälle und die eindrückliche Zusammenfassung so vieler Schicksale hinterlassen gleichzeitig positive und negative Eindrücke. Das Buch betont die Dringlichkeit und die Schwierigkeiten der Hilfe, vermittelt allerdings auch eine Ahnung vom Ausmass des Scheiterns wegen unzureichender Möglichkeiten, ganz besonders wegen ungenügender Bildung und Ausbildung der Bevölkerung (und der Politik) in den Gastländern, auch wenn der gute Wille vorhanden ist, was leider gar nicht oft der Fall ist. Umso dankbarer nimmt man zur Kenntnis, dass Initiativen wie die im Buch geschilderten, schliesslich zu Erfolgen führen können. Die «Eindrücke aus der wöchentlichen Sprechstunde» (S. 138 ff.) zeigen auf bewegende Weise, wie schwierig und komplex die Situation war, in der Marianne Leuzinger-Bohleber einzelne Menschen psychoanalytisch-diagnostisch und therapeutisch über die schlimmsten Krisen trug. Ihr profundes Verständnis und grosses Geschick vermochten, auch Mitarbeiter/-innen zu unglaublichen Leistungen bei der Rettung verzweifelter Fälle zu motivieren.

Das leider nicht seltene Scheitern, die Hilflosigkeit angesichts politisch verzweifelter Situationen, aber auch besonders komplizierte Verläufe, die im Detail geschildert werden, stellen uns vor die Frage, ob es auch wirklich möglich ist, konsequent und folgerichtig Hilfe zu leisten, oder ob nicht auch entgegengesetzte unbewusste psychische Strebungen sich hinderlich auswirken.

Wenn man Freuds meisterhaften Essay «Zeitgemässes zu Krieg und Tod» von 1915 liest und die Ausführungen und Beschreibungen im Buch von Leuzinger-Bohleber und Hettich dagegenhält, mag der Gedanke aufkommen, in der Willkommenskultur würden alle nur irgendwie denkbaren Anstrengungen zur Hilfe unternommen, aber Missgeschicke und Fehler geschähen teilweise aufgrund von unbewussten Ambivalenzen und nicht nur wegen der enormen Komplexität der tatsächlich herrschenden Situation. Dass die Projektverantwortlichen sehr wohl daran gedacht haben, erkennt man an den vielen und aufwendigen Vorgehensweisen zur Betreuung der Betreuer.

Im grossen Rahmen dieser auf der Psychoanalyse beruhenden Vorgehensweisen wird auch die Gruppe als Setting-Element eingesetzt, dies aber in den detaillierter beschriebenen Fällen nicht in psychoanalytisch fundierter Art und Weise. Um es präziser zu sagen: Es wurde mit der Beziehung zwischen den Gruppenleitern und den einzelnen Betroffenen gearbeitet und nicht anhand der gemeinsamen Gruppenaufgabe. Dies macht einen grossen Unterschied insofern, als die Gruppe nur mit letzterer Technik zu einem tragfähigen «Selbst» gelangen kann. Die Leitungspersonen kommen dann nicht in den Genuss des Vorteils, wenn ein weniger ausgeprägtes Übertragen unbewusster Momente auf die Leitungsperson erfolgt, was auch das Leiden unter der Last der Verantwortung lindert, denn diese ist besser auf alle Akteure verteilt und abgegrenzt. Man kann sich vorstellen, dass ein zusätzlicher Gewinn für die Flüchtlinge zu erzielen wäre, wenn dementsprechende psychoanalytische Gruppensettings mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen zur Anwendung gelangten. Gerade unter den gegebenen Verhältnissen, die von Ungewissheit und insbesondere oft von kurzfristig anberaumten Verlegungen geprägt sind, ist ein Gruppensetting trotz aller unvermeidbaren Fluktuationen sinnvoll. (Auf S.134 ff. wird auf Erfahrung mit psychoanalytischen Gruppen verwiesen.) Die Gruppe als Subjekt ist auch noch «da», wenn einzelne Mitglieder ausfallen. Das trägt Wesentliches zur inneren Stabilisierung der Betroffenen bei, die sich als Gruppenmitglieder ein Stück Identität aufbauen können. Die im Buch geschilderte Überforderung der Betreuer durch ihre oft «unmögliche» Aufgabe hängt wohl in manchen Fällen mit der Auffassung zusammen, die Verantwortlichkeit liege beim Helfer, während sie doch stets eine geteilte ist. Die Gruppe gibt den Betroffenen die Möglichkeit, aktiv an ihrer Aufgabe zu arbeiten, im Sinne einer Ermächtigung. Jedoch wird die Aufgabe oft zu sehr von den Helfern definiert statt von den Betroffenen selbst.

Auch die «Betreuung der Betreuer» wird mit grossem Vorteil auf psychoanalytischer Basis durchgeführt, insbesondere mit Gruppensettings, in denen die Teilnehmer nicht belehrt werden, sondern aus ihren Erfahrungen schöpfend die jeweilige Gruppenaufgabe selbst entwickeln und bearbeiten, vorzugsweise unter Einsatz erfahrener koordinierender und beobachtender Fachpersonen. Es wäre interessant, von den Buchautorinnen im Detail zu erfahren, inwieweit die Supervisionsgruppen und die Teambesprechungen in diesem Sinne organisiert und durchgeführt worden sind.

Es sei dem Rezensenten nachgesehen, dass er das Buch zum Anlass eigener weiterführender Überlegungen genommen hat; er reiht sich mit seinen Wünschen in die Liste der 20 Punkte «Zum professionellen Umgang mit Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung» (S. 86 ff.) ein. Die Leser werden wohl ihrerseits auf die eine oder andere Frage stossen, jedenfalls aber das Buch nicht weglegen, ohne aufgewühlt, beeindruckt und voller Bewunderung zu sein für den hier dokumentierten unglaublichen Einsatz, eine exemplarische Ausformung der eingangs genannten «Willkommenskultur».

Fussnoten

1 Hans-Jürgen Wirth: Von der "Unfähigkeit zu trauern" bis zur "Willkommenskultur". Zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik. Psychoanalytische Familientherapie. 2019; 20(1):17-50.

2 Book review: «Jean Claude Métraux: La migration comme métaphore.» (Schweiz Arch Neurol Psychiatr. 2012;163(04):161-162.) und «Jean Claude Métraux: La migration comme métaphore, troisième édition.» (Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2019;170:w03019)

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