Book review
Chantal Marazia (Herausgeberin): Karl Jaspers. Gesammelte Schriften zur Psychopathologie
Basel: Schwabe; 2019.
Karl Jaspers Gesamtausgabe, Bd. I/3.
Preis: CHF 148,00.
566 Seiten.
ISBN-13: 978-3-7965-3831-5


Es handelt sich um ein ebenso schön ausgestattetes wie teures Buch, das wegen des Preises erst einmal Bibliotheken ansprechen wird. Dabei ist der Preis verständlich und gerechtfertigt: eine Karl Jaspers-Gesamtausgabe auf den Weg zu bringen stellt ein gewaltiges und aufwändiges Unterfangen dar, das zugleich ausserordentlich lohnend ist. Aber nur weil ein schmucker und bibliophiler Band den eigenen Bücherschrank zieren soll, wird sich in der Zeit einer digitalisierungsbedingten Abkehr vom gebundenen Buch kaum jemand das Werk leisten. Lohnen also, das gilt es zu klären, die frühen, vor oder zeitgleich mit dem epochalen Werk der «Allgemeinen Psychopathologie» (1913) erschienenen Texte von Karl Jaspers die Relektüre? Für wen könnte sie sich denn lohnen?
Eine kenntnisreich und klar geschriebene Einleitung der Herausgeberin Chantal Marazia führt in das Werk ein und stellt den Psychopathologen Jaspers im zeit- und ideengeschichtlichen Kontext dar. Jaspers promoviert bei Nissl in Heidelberg zum Thema «Heimweh und Verbrechen». Er wird weiterhin von K. Wilmanns, dem späteren Nachfolger Nissls an der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg, begleitet bei der Studie «Eifersuchtswahn. Ein Beitrag zur Frage:‹Entwicklung der Persönlichkeit› oder ‹Prozess›?». Jaspers evaluiert bald darauf kritisch «Die Methoden der Intelligenzprüfung und der (den) Begriff der Demenz», befasst sich mit den «Trugwahrnehmungen», plädiert für «Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie» und differenziert in der wohl bekanntesten Arbeit des Buches «Kausale und ‹verständliche› Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose beider Dementia praecox (Schizophrenie)», um schliesslich «Über leibhaftige Bewusstheiten (Bewusstseinstäuschungen), ein psychopathologisches Elementarsymptom» nachzudenken.
Für wen, so hatte ich einleitend gefragt, kann das Buch wichtig sein? Zunächst natürlich für den psychiatriegeschichtlich interessierten Leser oder die Leserin, der/die in die psychiatrische Diskussion des beginnenden 20. Jahrhunderts hineingezogen wird und der/die der Entstehung der Psychopathologie als einer Grundlagenwissenschaft, die später so lange in Heidelberg hochgehalten und gepflegt werden sollte, beiwohnt. Besonders lehrreich wird für alle an der Entwicklung des Denkwegs von Jaspers Interessierten sein, dass in den vorliegenden Texten die «Allgemeine Psychopathologie» sich vorbereitet. Die dort systematisch ausgearbeiteten Gedanken werden hier in Auseinandersetzung mit den konkreten klinischen und theoretischen Fragen gebildet und erstmals formuliert. Jaspers über die Schulter zu schauen, ist aber nicht nur historisch ertragreich, es schult immer noch und immer aufs Neue die Präzision der Beobachtung und ihre begriffliche Fassung und Einordnung. Der klare und schnörkellose, unerbittlich auf Exaktheit ausgehende Stil fordert v.a. den klinisch tätigen Psychiater heraus, sich zu positionieren und die eigene Nomenklatur zu hinterfragen, die oft genug in der Routine schwammig geworden ist oder die nie theoretisch fest fundiert war.
Jaspers legt grössten Wert auf den Weg der Erkenntnisgewinnung, also auf die Methode. Sein Plädoyer für eine exakte Phänomenologie spricht auch hundert und mehr Jahre später an. Das genaue Hinhören und Hinsehen bei den jeweils individuellen Fällen, aus deren Zusammenschau sich erst Erkenntnis empirisch bilden kann, stellt sich in allen Texten lebendig dar in den ausführlich wiedergegebenen Krankengeschichten, die die Lebensschickale und Bildungsprozesse von Menschen in psychiatrischer Behandlung, den Zeitgenossen des jungen Jaspers, lebendig werden lassen. «Man kann sich in der Psychiatrie nicht verständigen ohne die Schilderung einzelner Fälle» (S.85). Diese Kultur, dem Individuum Platz einzuräumen und in der gründlichen Dokumentation seinem Erleben Ehre widerfahren zu lassen, ist weitgehend verloren gegangen und kommt in der unerbittlich zeitgetakteten und kostenbewussten Psychiatrie unserer Tage so schnell in den elektronischen Krankenakten nicht wieder. Umso wertvoller werden die hier versammelten Kasuistiken.
Nicht nur Jaspers’ Methodenbewusstsein, sondern auch sein Eingehen auf die Methodologie und die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychiatrie können einen Anreiz zur Lektüre darstellen. Der «praeceptor psychopathologicus Germaniae» argumentiert unerbittlich; er trennt scharf zwischen Prozess und Entwicklung: ein Prozess lasse sich nicht verstehen, so meint er, er führe über eine längere Zeit durch eine Abwandlung der Persönlichkeit zu unheilbaren Zuständen, die sich nur erklären liessen, anders als eine Entwicklung. Verstehen beruhe auf dem Sich-in-andere-Versetzen, und dieses könne im Nachvollziehen der Rationalität einer Abfolge von Gedanken, Handlungen oder Gefühlen bestehen («rationaler Zusammenhang»), aber auch im Eingehen auf die Empfindungswelt des Anderen («Einfühlung»; S.141). Der Bereich des Erklärens sei unbegrenzt, nicht hingegen der des Verstehens. Die Psychoanalyse, so räumt er ein, habe viele interessante Ideen zum Verstehen des primär Unverstandenen beizutragen, aber sie mache einen Fehler, wenn sie denkt, damit Ursachen erfassen zu können. «Freud macht aus verständlichen Zusammenhängen Theorien über die Ursachen des gesamten seelischen Ablaufs, während Verstehen seinem Wesen nach nie zu Theorien führen kann, während kausale Erklärungen immer zu Theorien führen müssen» (S.392). Über solche gehämmerten Sätze lässt sich trefflich streiten. Die Psychoanalyse, so Jaspers weiter, irre ohnehin durch die «zunehmende Simplizität» der Verstehenstheorie, etwa wenn sie in ihrer zu reduktiven Theorie alles Verhalten auf Sexualität zurückführe.
Die apodiktisch vorgetragenen Grenzlinien, die Jaspers gezogen hat, waren folgenreich in den später in mehreren Runden ausgetragenen Verstehen-Erklären-Kontroversen in Psychopathologie und Philosophie. Sie haben sich auch lange Zeit klinisch unheilvoll ausgewirkt, weil sie die Begegnung, z.B. mit dem psychotisch erlebenden Patienten, und ein Verstehen der psychotischen Inhalte seiner Gedanken behindert haben. Die sich an Jaspers’ Wissenschaftsbegriff anschliessenden Fragen aber, wie weit das Verstehen reichen kann in der Therapie, ob das Verstehen wirklich nicht kausal wirksam werden kann, ob die Gegenüberstellung von Verstehen und Erklären, von biologischem Prozess und psychologischem Sinngehalt angemessen ist, diese Fragen beschäftigen uns unvermindert weiter. Nicht immer erfreut die Lektüre, sie kann auch Widerspruch und Einsprache provozieren. Aber damit bietet sie Stoff zum Denken und Anlass zur besseren Entwicklung der eigenen Standpunkte. Die Lektüre des Buches ist also nicht allein historisch relevant, sondern für die Diskussionen der Gegenwart lohnend.
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