Book review

Gregor Hasler: Die Darm-Hirn-Connection

Revolutionäres Wissen für unsere psychische und körperliche Gesundheit

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03082
Publication Date: 10.04.2020
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03082

Kesselring Jürg

Stuttgart: Schattauer; 2019

301 Seiten.

Preis: Euro 20,00 (Deutschland).

ISBN-13: 978-3-608-40002-1.

fullscreen
Abbildung 1
Buchcover

Früher fristete der Darm in der Literatur mehrheitlich ein Mauerblümchen-Dasein, ausser wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Briefen und Tagebüchern ihre Hämorrhoiden und Verstopfungen bejammerten (Thomas Mann, Anton Cechov und andere). Er wurde eher als Kloake beschrieben, von der kaum gesprochen wurde und ganz sicher nicht in den «feinen Kreisen». Stakkatoartige Luftentäusserungen waren gesellschaftlich toleriert, aber auch nur innerhalb bestimmter Normgrenzen. Patientinnen und Patienten suchen wegen ihres Darmleidens erst dann ärztliche Hilfe, wenn der Schmerz das Schamgefühl überwiegt. Der After ist eine der letzten Tabuzonen des Körpers, dort spielen sich die «Leiden der heimlichen Örter» oder «peinlichen Krankheiten» ab.

Heute ist der Darm als Gesprächsthema salonfähig geworden und wird gar charismatisch mit Charme geadelt. Laktoseintoleranz, Glutenunverträglichkeit und Blähungen haben mediale Hochkonjunktur. Dabei geht es tatsächlich um ein gesundheitsentscheidendes Zusammenspiel von Darm und Hirn, das der sprachlich und didaktisch enorm versierte Autor Gregor Hasler anhand eigener Erfahrungen, einfühlsamer Patientenbeobachtungen und sorgfältiger Gewichtung und Bewertung relevanter Studien darstellt. Der Verlag wirbt sogar mit der Vermutung, «das Mikrobiom im Darm könnte gar auch ein Schlüssel zu unserem Glück sein».

Der Autor ist seit 2019 Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg (Schweiz) und Chefarzt des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit (FNPG). Er wandelt schon lange auf den Spuren der Därme beziehungsweise der Ernährung seiner psychisch erkrankten Patientinnen und Patienten. Hasler nimmt uns hier auf eine Reise durch diese ganz erstaunlichen Organgeflechte, ausgehend von einer frühen Erfahrung im Medizinunterricht, in welchem doziert wurde: «Unser Gehirn ist eine Weiterentwicklung des Darmnervensystems […]», wonach das «Bauchgefühl» unserem Autor zum Glück unmissverständlich mitteilte: «Du musst Medizin studieren!».

Er beschreibt sehr kenntnisreich Hirn und Darm als ein zusammenhängendes Organ mit den Verbindungslinien des parasympathischen Vagus-Nervs, welcher vorwiegend der Beruhigung dient, indem «80% seiner Fasern den inneren Organen zuhören» (Interozeption), und des Sympathikus’, welcher «den ganzen Körper in Aufruhr versetzen» kann. Die bedenkenswerte Tatsache wird hervorgehoben, dass die Darmoberfläche «die grösste Fläche zwischen uns und der Umwelt» ist, sozusagen «die Innenwelt der Aussenwelt». Es ist eine «höchste merkwürdige Wendung der Evolution, das Vegetative mit dem Sozialen so eng zu verknüpfen» (S. 19), im Austausch mit anderen Leuten wohl auch den inhärenten Erstarrungsmodus übersteigend. Entsprechend wird in Fortsetzung eines früheren Buches desselben Autors («Resilienz – der Wir-Faktor») auch die Resilienzstärkung durch Förderung des vegetativ-sozialen Vagus’ empfohlen.

Für Neurologen wertvoll ist die sorgfältige Darstellung des phylo- und ontogenetisch besonders alten Darmnervensystems und der Inselrinde, wobei deren Zusammenspiel bei Entscheidungen sehr kenntnisreich dargestellt und mit eindrücklichen Fallvignetten illustriert wird. Hormone wie Serotonin, Dopamin, Cholezystokinin, die auch im Darm gebildet werden, stehen in Verbindungen zu psychischen Erkrankungen bzw. Befindlichkeitsstörungen. Ausführlich wird auf die Darm-Hirn Balance bei der Ernährung eingegangen (S. 76 f.) und mit Hunger und Scham in Verbindung gebracht, woraus auch sehr praktische Empfehlungen zur Ernährung abgegeben werden. Ein kleiner Hinweis darauf, dass Verstopfung ein wichtiger, oft unterschätzter Stressfaktor im Alter ist (S. 55), könnte in der geriatrischen Praxis mit entsprechenden Massnahmen sehr viel Leid ersparen. Neben der Inselrinde und ihren Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen (Schizophrenie, Autismus etc.), wird auch dem Belohnungssystem viel Aufmerksamkeit gewidmet und die Neuropsychologie der Sucht (auch Bulimie und Fettsucht) detailliert dargestellt (S. 107 f.). Dabei wird mit gut begründeter Kritik an Praktiken der Nahrungsmittelindustrie im «Zuckerdrama der Spätmoderne» nicht zurückgehalten (S. 118 f.). In gewissen Kreisen wird nicht unumstritten sein, dass «Zuckerlust als Folge und Ursache der Depression» dargestellt wird, aber die Argumente (S. 142 f.) werden beim Nachdenken ihre Wirkung nicht verfehlen: hoher Zuckergehalt senkt BDNF, stumpft das Hirnbelohnungssystem ab, führt zu einer Aktivierung des Entzündungssystems, führt zu Insulinresistenz und Stress steigert die Blutzuckerkonzentration.

Und dann folgen die Darmbakterien (S. 153 f.), die ausschliesslich von der Mutter vererbt werden. Die Zahlen sind eindrücklich: 90% unserer Bakterien geniessen «die nährstoffreiche Umgebung unseres fünf bis neun Meter langen Darmes», «ein einziger Quadratzentimeter Darminhalt [beherbergt] mehr Bakterien, Viren und Pilze als die gesamte Erde Menschen […], diese Lebewesen [machen] den Dickdarm also zu der am dichtesten besiedelten Region auf dem Planeten» (S. 157), Darmflora und Ernährung existieren in einer Symbiose. Es wird auch auf den Zusammenhang von Untergewicht und Knochendichte, den Einfluss auf die Ausbildung und Aufrechterhaltung von Krankheiten oder auf die Wirkung von Arzneimitteln und die Entgiftung eingegangen. Dann aber vor allem darauf, «wie die Darmflora mit dem Gehirn kommuniziert und Emotionen beeinflusst» (S. 176) bzw. welche gefährlichen und belastende Auswirkungen eine Dysbiose, ein gestörtes Gleichgewicht der Darmflora, auf den ganzen Organismus haben kann. Für verschiedene neurologische und psychiatrische Krankheiten spielen eine Störung der Verbindungen zwischen Gehirn und Darm eine ursächliche Rolle.

Gregor Hasler ist es mit diesem gut lesbaren Buch gelungen, unsere Aufmerksamkeit auf den systemischen Zusammenhang zu lenken, der zwischen Darmsystem und Gehirn besteht, wie er in dieser Sorgfalt und fundierten Weise bisher kaum je beschrieben worden ist. Neben der gründlichen Darstellung der relevanten Studien (auch zahlreichen eigenen, die in den führenden Fachzeitschriften publiziert sind), welche seine (Hypo-) Thesen solide untermauern, ist das Buch auch deshalb mit Genuss zu lesen, weil es zahlreiche, illustrative Fallbeispiele aus seiner grossen, jahrelangen Praxis und sympathische Darstellungen aus seiner ganz nahen Um- und sogar Innen-Welt enthält. Wortwahl und Satzbau sind einladend zum Lesen. (Vielleicht etwas viel «sprich» statt «d.h.» bzw. «revolutionäre Studien», wo es sich auch einfach um Anwendung des «gesunden Menschenverstands» handelt. Dies ist aber möglicherweise eher dem Lektorat geschuldet.)

Verpassen Sie keinen Artikel!

close