
Review article
«Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe»1 – eine philosophische Meditation über einen Satz von Karl Jaspers
Basierend auf dem Vortrag vom 20. Juni 2019 am Rheinfelder Tag Psychotherapie – «Psychotherapie und Grenzen».
Summary
Wherever we are and as long as we are, we are in a situation: in a here and now, entangled in a spatially and temporally determined context of things and events. What face the situation shows depends on our goals and interests. We learn to deal with situation types. Part of the basic situation is that we are always in situations, that we cannot live without fighting and suffering, that we become guilty without being guilty, that we have to die. Becoming aware of this means being faced with a borderline situation.
Borderline situations are manifestations of the basic situation of our existence. The basic human situation may be an object of contemplation, but borderline situations are experienced and suffered. They are the epitome of our failure in the world. In view of the question of German guilt after World War II, Jaspers opened the dialogue in public about the borderline situation of guilt and distinguished between criminal, political, moral and metaphysical guilt. Only in the latter does a borderline situation become apparent. This can mean despair, but there is also, according to Jaspers, the possibility in a person that he can become inwardly certain who he himself wants to be in the borderline situation – unconditionally and in the belief that only this will give him existence, beyond this world.
In Situationen sein
«Grenzsituation» ist ein Grundbegriff der Philosophie von Karl Jaspers2, von ihm geprägt und sehr bald zu einem Modewort geworden. Als Modewort hat er längst schon seinen Sinn verloren. Diesen Sinn wieder zurückzuholen, ist Ziel dieses Artikels. Nicht in Form einer Jaspers-Exegese allerdings, sondern durch ein erneutes Nach-Denken – in der Hoffnung, dass das von Jaspers Gedachte dadurch wieder lebendig werden kann.
Was Grenzsituationen sind, können wir erst verstehen, wenn wir uns klar machen, was Situationen sind. Was also ist eine Situation? Es ist nichts offensichtlicher als dies – und darum wohl auch so schwer zu fassen. Wo immer wir sind und solange wir sind, stehen wir in einer Situation: in einem Hier und Jetzt, verstrickt in einen räumlich und zeitlich bestimmten Zusammenhang von Dingen und Ereignissen. Welches Gesicht die Situation mir zeigt, hängt ab von meinen Interessen und Zielen und ergibt sich aus der Art und Weise, wie ich durch meinen Leib und meine Sinne mit meiner Umwelt verbunden bin. Wie steil ein Berg ist, merke ich beim Hinaufklettern, wie schön die Aussicht, sehe ich, wenn ich auf dem Gipfel bin.
In jeder Situation stellt sich die Frage: Was bedeutet sie für mich? Bringt sie Gutes oder Schlimmes? Ist sie meinen Interessen förderlich oder hinderlich? Und mit jeder dieser Fragen sehe ich neue Gelegenheiten, handelnd einzugreifen, aber auch neue Risiken, Unerwünschtes zu erleiden.
Situationen sind in ständigem Wechsel. Ein neues Ereignis bricht herein – ein erwartetes, wie der Einbruch der Dunkelheit, oder ein unerwartetes, wie das Auftauchen einer weiteren Person oder ein plötzlicher Wetterumschlag. Ich kann, wenn neue Situationen eintreten, diese zu meinen Gunsten verändern, zum Beispiel indem ich vor dem Gewitter Schutz suche. Ich kann mich aber auch gezwungen sehen, eine Situation hinzunehmen, wie sie ist, und auf eine bessere zu warten.
Keine Situation kehrt wieder, jede ist darum absolut individuell, einmalig, die Gelegenheiten, die sie bietet, sind, wenn ich sie nicht ergreife, ein für alle Mal vorbei. Dies schliesst selbstverständlich nicht aus, dass sich Situationen in ihren allgemeinen Zügen gleichen können. Es gibt wiederkehrende Typen von Situationen: die allgemeine Situation, unterwegs zu sein auf einer Bergwanderung, die typische Situation, in ein Gewitter zu geraten. Jede Verhaltensregel beruht auf einer solchen Situationsverallgemeinerung. Die Regel, zum Beispiel «Wenn du in ein Gewitter gerätst, sollst du hohe Bäume meiden», macht nur Sinn unter der stillschweigenden Annahme, dass es wiederkehrende, relevant gleiche Situationen gibt. Jedes Lernen für die Zukunft, jedes Planen und Kalkulieren rechnet mit sich wiederholenden Situationsmustern. Aber für jede Situation, in die ich involviert bin, gilt: Sie hat, allein schon durch ihre räumliche und zeitliche Bestimmtheit, immer individuelle Züge und ist in diesem Sinne einmalig. Es gibt eine und nur eine Person, die mir am 10. Juni 2017 um 16 Uhr 15 an einer bestimmten Weggabelung entgegengekommen ist.
In einer Situation stehen ist eines, die Situation kennen ein Zweites. Im Grunde wissen wir nie, in welcher Situation wir tatsächlich sind. Wir halten uns für gesund, dabei hat der Krebs den Dickdarm schon zerfressen. Wir wähnen uns glücklich, dabei ist eines unserer Kinder eben verunglückt. Oft wissen wir erst hinterher, in welcher Situation wir uns befunden haben. Und nicht selten wissen andere weit besser als wir, wie es um uns steht. Situationen sind letztlich nie überschaubar. Eines aber ist gewiss: Ich kann niemals aus einer Situation herauskommen, ohne schon in einer nächsten Situation zu sein. Das In-Situation-Sein hört nie auf. Solange ich lebe, gilt darum: Keine Situation – und sie mag noch so schlimm für mich sein – ist auch schon die letzte. Doch wenn keine Situation die letzte ist, wo bleibt dann die Grenzsituation?
Grenzsituation und Grundsituation
Wenn wir zur Grenzsituation vordringen wollen, dürfen wir sie nicht unter den einzelnen Situationen suchen. Es ist keine Situation, die es für den Augenblick gibt und dann wieder nicht, es ist nicht irgendeine unter unzählig vielen. Also auch nicht das, was wir besser als «Ausnahmesituation» oder «Extremsituation» bezeichnen müssten.
Grundmerkmal einer Grenzsituation ist: Wir kommen nicht in sie hinein und wir kommen nicht aus ihr heraus, denn wir sind – wie immer wir uns auch wenden – immer schon in ihr drin. Darum und nur darum ist die Grenzsituation auch unüberwindbar, unveränderbar, nicht wie eine Schranke, die man am Ende doch noch übersteigen könnte, nicht etwas Schreckliches, das wir am Ende doch noch überleben können, sondern eine absolute Wand, an die wir stossen.
Doch welche Art von Situation kann dies sein? Ein Beispiel dafür habe ich schon gegeben: Das Faktum, dass wir immer in Situationen sind und nicht anders als in Situationen sein können. Jaspers nennt als weitere solcher Situationen: dass ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, dass ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, dass ich sterben muss. Diesen Situationen können wir nicht entrinnen, sie sind mit unserem Dasein in der Welt notwendig verbunden, gehören, mit Pascal gesprochen, zur «condition humaine». Doch sie entziehen sich unserem Blick. Die einzelnen konkreten Situationen, in denen wir uns finden,sind wie die Wellen auf der Oberfläche eines Gewässers, aber die Grenzsituationen sind der Grund in der Tiefe, über dem sich dies alles abspielt. Solange wir bloss auf den Wellen der sich ständig verändernden Situationen treiben, bleiben sie uns verborgen. Sie sind Grundsituation, aber noch nicht Grenzsituation3. Zu Grenzsituationen werden sie erst, wenn wir uns der Grundsituation bewusst werden.
Wie werden wir uns der Grundsituation bewusst?
Wie bekommen wir die Grundsituation in den Blick? Es bedarf dazu einer anderen Einstellung: die Bereitschaft und den Willen, den grösstmöglichen Abstand zu uns selbst zu gewinnen und uns zu sehen als Teil des uns umgreifenden Ganzen der Welt. Dies ist eine ganz besondere Weise des Abstandnehmens. Es ist jene, welche die Philosophie ausmacht und mit der das Philosophieren beginnt.
Wir sehen den Unterschied deutlicher, wenn wir die Art und Weise, wie wir im Alltagsleben oder in der Wissenschaft Abstand nehmen, mit dem philosophischen Abstandnehmen vergleichen. Den ersten Schritt zur alltäglichen Selbstdistanzierung muten wir schon kleinen Kindern zu: Er beginnt mit dem Erlernen der Sprache. Ein Kind, das sprechen lernt, erwirbt dadurch die Fähigkeit, sich aus seiner egozentrischen Gebundenheit an die einzelne Situation, an den «Pflock des Augenblickes», wie Nietzsche sagen würde, zu lösen. Sobald es Namen gebrauchen kann, Mama und Papa, Hans und Willi, und mit Kennzeichnung zu operieren versteht, d.h. mit Ausdrücken wie: «der Hund dort», «die Frau von vorhin», ist es, sprechend, bereits nicht mehr auf die jeweilige Situation bezogen. Es kann sich nun zurückbeziehen auf frühere Situationen und es kann kommende Situationen antizipieren.
Doch wenn gilt, dass wir immer in Situationen sind, können wir uns fragen: In welcher Situation befinden wir uns, wenn wir, auf diese Weise denkend und sprechend, von uns in der jeweiligen konkreten Situation Abstand nehmen? Diese Frage mag seltsam klingen, und sie wird noch rätselhafter, je länger wir über sie nachdenken. Selbstverständlich ist einer, der redet, mit seinem Leib an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation, im Vortragssaal, am Biertisch oder wo auch immer, und natürlich hat er in der Regel auch ein konkretes Gegenüber, mit dem er redet und zu dem er spricht, und sei dieses Gegenüber auch nur – er selbst. Aber wie unwesentlich und gleichgültig die unmittelbar gegebene Situation für unser Reden und Denken ist, merken wir spätestens, wenn wir schreiben oder telefonieren. Redend, in unseren Gedanken eben, sind wir ganz anderswo, bei dem nämlich, was wir jeweils meinen, wenn wir reden. Wenn ich laut spreche oder meine Gedanken schriftlich niederlege, hat jeder, der meine Sprache versteht und das von mir Gesagte hört oder liest, die Möglichkeit, sich seinerseits dorthin zu begeben, wo ich bin oder wo ich war. Im Idealfall sind wir dann am selben Ort, bei der Geschichte von Hans und Lise zum Beispiel, die ich soeben zum Besten gegeben habe. Aber wo genau ist dieser Ort? Dort, wo Hans und Lise sich befinden? Doch diese sind ja längst nicht mehr in der Situation, von der die Geschichte handelt – immer vorausgesetzt, dass die Geschichte überhaupt wahr ist und es diesen Ort je gegeben hat.
Redend und denkend sind wir, so seltsam es klingt, weder hier noch dort, sondern anderswo. Doch uns fehlen die Wörter, die uns zu sagen erlauben, wo dieses Anderswo liegt. Thomas Nagel, ein amerikanischer Philosoph, nannte es den «Blick von nirgendwo her» («the view from nowhere»). Ein überaus treffender Ausdruck. Wir sind im Nirgendwo. Doch das Merkwürdige ist, es ist genau der Ort, an dem sich alle, die miteinander kommunizieren, treffen können. Wer vom Nirgendwo her blickt, schaut dorthin, wohin auch jeder andere blicken könnte. Es ist ein Standpunkt, den im Prinzip jeder einnehmen kann, der unsere Sprache spricht und die Bedeutung der Wörter versteht. Ein unpersönlicher Standpunkt also, auf dem wir uns ein und derselben Dinge bewusst werden. Kant und dann auch Jaspers nennen diesen Standpunkt «Bewusstsein überhaupt».
Es ist dieser Blick von nirgendwo, den sich in reinster Form die Wissenschaft zu eigen macht, denn von diesem Nirgendwo her können wir, miteinander kommunizierend, gemeinsam prüfen, ob die Sachverhalte, die wir für wahr halten oder als möglicherweise wahr hinstellen, tatsächlich auch wahr sind. Je mehr wir dabei alles Subjektive, alles, was uns als Person ausmacht, tilgen, umso eher kann es uns gelingen, zu jenem Punkt zu gelangen, in dem wir mit allen andern um Wahrheit Bemühten identisch sind und zu identischen Aussagen gelangen.
Dieser Blick von nirgendwo lässt sich beliebig weit öffnen. Wir können uns beliebig weit von dem entfernen, was hier und jetzt vor unseren Augen liegt, und auf all das blicken, was der Fall ist, bisher schon der Fall gewesen ist oder in Zukunft der Fall sein könnte. Wir können ihn selbstverständlich auch auf uns selbst richten, auf das, was von uns selbst in der Welt zur Erscheinung kommt: unsere physischen, psychischen, sozialen oder geistigen Gegebenheiten. Auch diese sind, im Prinzip, aus der Warte des unpersönlichen «Bewusstseins überhaupt» allen um Erkenntnis Bemühten zugänglich.
Soweit also die uns vertraute Weise des Abstandnehmens. Wo aber bleibt das philosophische Abstandnehmen? Auch dies hat keinen anderen Ort als den des «Bewusstseins überhaupt», den Blick von nirgendwo. Doch was es in den Blick zu fassen versucht, sind nun nicht mehr einzelne Erscheinungsweisen in der Welt, sondern die Welt als Ganzes und unser Leben als Ganzes. Was ist es denn, was mich ausmacht? Was ist dieses Ganze, in dem ich stehe? Woher kommt es, und was ist sein Ziel? Erst wenn wir auf diese Weise fragen, wird uns bewusst: Dies sind Fragen, die nirgendwohin führen. Denn was ist dieses letzte Ganze? Die Materie, der Geist, die Geschichte, Gott? Bei allem, was wir zum Letzten erklären, ist sogleich die Frage: Woher denn dieses? Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Es ist wie ein Blick über das Meer: Hinter jedem Horizont öffnet sich ein weiterer – und so ins Unendliche.
So ergeht es uns auch, wenn wir fragen, wer wir selbst sind. Nichts von alledem, was von mir in dieser Welt erscheint, ist mein letztes, mein eigentliches Ich. Und wenn ich es zu haben glaube in dem, was ich nun Selbst, Seele, Geist oder sonst wie nennen mag, bleibt noch immer das Rätsel, wie ich dieses Etwas sein kann und zugleich jenes Ich, das als Bewusstsein überhaupt diesem Etwas erkennend gegenübersteht.
Je mehr wir uns in solche Gedankengänge vertiefen, desto klarer wird: Was wir suchen, ist etwas, das jenseits alles Denk- und Vorstellbare liegt: Wir glauben ein Ganzes zu sein und finden uns vor in jenem Ganzen, das wir Welt nennen, aber wir wissen nicht, wer wir sind und was wir in diesem Ganzen sollen. Das einzige, das wir noch zu erkennen vermögen, ist unsere Grundsituation: zufällig geboren und nur dazu da, kämpfen, leiden, schuldig werden und sterben zu müssen. Ein Faktum, für das es keine Erklärung gibt: nichts, was vorhergeht und aus dem all dies notwendigerweise folgen würde, kein Wozu, auf das hin wir es verstehen könnten. Unsere Grundsituation ist, wie sie ist. Die reine Kontingenz. Dennoch ist unvorstellbar, dass irgendetwas anders sein könnte.
Von allen Situationen abstrahierend und diese negierend können wir uns zwar vorzustellen versuchen, wie es für uns wäre, nicht an Situationen gebunden zu sein. Aber damit scheitern wir genauso und aus demselben Grund, wie wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie es für uns sein wird, wenn wir nicht mehr sind. Dieses Scheitern ist nicht ein zufälliges Scheitern, nicht eines, das mit etwas mehr Phantasie, mit besserer Vorstellungskraft zu überwinden wäre, sondern liegt in der Natur der Sache selbst. Wenn keiner mehr da ist, gibt es auch keinen mehr, für den dieses Nichtdasein noch gegeben sein könnte. Als nicht mehr Existierender seine Nichtexistenz feststellen zu wollen, ist ebenso absurd, wie in der Situation zu sein, in der man in keiner Situation mehr ist. Die Unmöglichkeit, die in diesem Gedanken liegt, macht uns die absolute Grenze erst bewusst, an die wir stossen, wenn wir unseren jederzeit möglichen Tod zu denken versuchen oder eben den Zustand, in dem wir in keiner Situation mehr sind.
Diese Grenze jedoch ist uns nicht unmittelbar gegeben. An sie stossen wir nur, wenn wir in Gedanken über das Ganze unseres Daseins hinauszugelangen versuchen – in ein Sein, das kein Dasein in der Welt mehr ist, ortlos und zeitlos zugleich. Der Aufprall an dieser Grenze wirft uns zurück auf unsere Grundsituation und macht uns erst richtig bewusst, in welchem Gefängnis wir uns befinden.
Was haben wir gewonnen, wenn wir dies einsehen? Aus der Warte des Bewusstseins überhaupt können wir nichts anderes tun, als dies illusionslos zur Kenntnis zu nehmen. Und uns als Zuschauerin in philosophischer Gelassenheit üben.4
Grenzsituationen erfahren
Wir sind nicht bloss Zuschauer, nicht nur «Bewusstsein überhaupt». Wir sind endliche, an unserer Existenz interessierte, um Selbstbehauptung und Selbsterhaltung ringende Wesen. In rein theoretischer Kontemplation über unser Dasein nachdenken, ist uns höchstens für gewisse selbstvergessene Augenblicke vergönnt. Wir haben Daseinsinteressen, und unser grösstes Interesse ist das Interesse an unserem eigenen Da-Sein. Wir können darum nicht anders als all das, was uns begegnet, aus der egozentrischen Interessen-Perspektive zu sehen und entsprechend zu bewerten: als gut oder schlecht, als gut oder böse, als sittlich oder unsittlich, als schön oder hässlich, als unheilvoll oder heilbringend, göttlich oder teuflisch oder wie immer. Und mit dem Bewerten geht ein Fühlen und Wollen einher. Das Werthafte (als Begriff alles Positiven) ist das, was wir lieben und was wir begehren, das Wertlose und Unwerte ist dasjenige, das wir hassen. Was wir lieben, von dem wollen wir, dass es Dauer hat und bleibt, was wir hassen, von dem wollen wir, dass es schon gar nicht in die Welt kommt oder dann möglichst bald wieder verschwindet.
Auf Grund unseres Wünschens und Wollens bekommt die Grundsituation ein neues Gesicht. Nicht um das Los des Menschen schlechthin geht es, es geht um mich selbst. In voller Betroffenheit wird mir bewusst, dass all das Werthafte, das ich wünsche und zu verwirklichen suche, stets gebunden ist an das Wertwidrige und Zerstörerische – kurz, dass mein ganzes Dasein erkauft ist mit Untergang, Zerstörung und Tod.
Spätestens an diesem Punkt wird die Frage unabweisbar: Was tue ich, wenn ich selbst in der Grenzsituation stehe, in der mir voll und ganz bewusst wird, dass es hier um mich geht, um mein Heil oder Unheil?
Um diesen allgemeinen Gedanken anschaulicher werden zu lassen, skizziere ich im Folgenden, nun näher an Jaspers’ eigenen Darstellung, einige der aus der Grundsituation sich ergebenden Grenzsituationen und zeige - etwas konkreter - am Beispiel der Grenzsituation der Schuld, in welche Ausweglosigkeiten sie uns führen.
Eine kurze Beschreibung von Grenzsituationen
Unser nicht endendes Wollen schafft endloses Leiden, für uns und für andere, das Leid, hinnehmen zu müssen, was wir nicht wollen, und das Leid, nicht haben und nicht sein zu können, was wir wollen [1, S. 220-223]. Wo immer wir lieben, leben wir in der Furcht, das Geliebte wieder zu verlieren. Ob es uns trifft und wie es uns trifft, hängt ab von der Situation, in der wir uns befinden. Es ist, wie man so sagt, eine Frage des Glücks. Aber das Glück ist wechselhaft. Das uns eben zugefallene Gute kann uns im nächsten Augenblick schon wieder entrissen werden. Je wertvoller das Gute, desto zerbrechlicher ist es.
In Situationen verstrickt sein heisst darum immer, dem Zufall ausgeliefert sein [1, S. 216]. Je mehr wir darüber nachdenken, desto deutlicher wird, dass letztlich alles, was es überhaupt gibt, auf Zufall beruht. Ein unerklärlicher und – wie die Physiker wissen – unwahrscheinlicher Zufall ist es, dass es das Universum überhaupt gibt, ein ebenso unwahrscheinlicher Zufall, dass es mich, dieses eine, bestimmte Individuum gibt. Es hätte weit eher alles anders sein können. Meine Eltern könnten sich nie getroffen haben, es wäre millionenfach wahrscheinlicher gewesen, dass diese eine Eizelle, der ich entstamme, nie von diesem bestimmten Spermium befruchtet worden wäre.
Jeder Versuch, dem Zufall zu entrinnen und das Schicksal, wie man so sagt, in die eigene Hand zu nehmen, liefert uns erst recht dem Zufall aus. Wir wollen dem Unheil entkommen und geraten gerade dadurch in seine Fänge. Dies ist der Stoff, aus dem die kleinen und grossen Tragödien des Lebens und der Literatur gewoben sind. Was sich in ihnen zeigt, ist der unaufhebbare Widerspruch, der sich durch unser ganzes Dasein hindurchzieht: Dass wir das Wertvolle nie ohne das Wertnegative, das Gute nie ohne das Böse und Schlechte haben können.
Um zu erlangen, was wir wollen, und abzuwenden, was wir nicht wollen, können wir nicht auf den glücklichen Zufall warten. Das von uns erstrebte Gute kommt nicht von selbst. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einzugreifen und das zu tun, was wir tun können. Das tun, was wir können, bedeutet aber: darum kämpfen.
Ohne Kampf geht es nicht [1,S. 233-246]. Als biologische Wesen können wir uns nur unter Anwendung von Gewalt im Dasein erhalten, sei es durch die Gewalt, die wir selber ausüben, oder durch die Gewalt jener Gruppen oder jener staatlichen oder ausser-staatlichen Institutionen, in deren Schutz wir uns begeben. Und dies geht weit über den Kampf ums Dasein hinaus. Nur durch den Kampf gegen andere können wir uns im wirtschaftlichen, im rechtlichen und im politischen Raum behaupten. Ohne Kampf können wir im Wettstreit der Argumente und Ideen nicht bestehen. Und an vorderster Stelle kämpfen wir immer auch gegen uns selbst: Nur wenn es uns, im Kampf gegen uns selbst, gegen unsere Instinkte, spontanen Regungen und Antriebe gelingt, dieser Herr zu werden, sind wir überhaupt in der Lage, noch kämpfen zu können.
Man kann sich dieser Grundsituation verweigern wollen. Man kann friedfertig wie ein Schaf sein wollen und auf jeden Kampf verzichten. Doch wer dies tut, gibt sich selbst preis, schlimmer noch, er gibt auch all das preis, was ihm wertvoll und wichtig ist. Solange wir leben, bleibt uns darum nur der Kampf. Kampf gehört zur Grundsituation des Menschen. Das Ideal einer Welt in Harmonie und Frieden ist eine weder vorstellbare, noch je realisierbare Utopie.
Kampf muss erlitten sein, er ist Teil unseres Leidens am Dasein, er ist aber andererseits auch durch unser Handeln Ursprung unserer Schuld [1] (246-249). Bei dieser Grenzsituation wollen wir etwas länger verweilen.
Die Grenzsituation der Schuld
Wenn wir von Schuld reden im Alltag, denken wir an einzelnes fehlerhaftes oder inakzeptables Verhalten. Das Fehlerhafte und Inakzeptable hätte unterlassen werden müssen. Der Pilot hat einen Fehler gemacht bei der Landung, der Beamte hat gegen rechtliche Vorschriften verstossen, der Mann hat seine Frau verletzt. Schuld im umfassenden Sinn wird uns erst bewusst, wenn wir in die Tiefe gehen und unsere Grundsituation unter dem Aspekt der Schuld zu erhellen versuchen.
Dass wir in ständigem Kampf mit anderen stehen, bedeutet, dass wir, ohne es zu beabsichtigen und zu wollen, anderen Leiden zufügen, auf Kosten anderer leben, Ausbeutung anderer in Kauf nehmen. Wer glaubt, er könne durch bewusstes Nichthandeln seine Hände rein halten, irrt sich. Nichthandeln befreit mich nicht von meiner Schuld, denn auch mein Nichtstun hat Folgen, lässt jenes mehr an Leiden zu, das sich durch mein Eingreifen vielleicht hätte verhindern lassen. Kurz, ob ich handle oder nicht handle, in jedem Fall gerate ich unvermeidlich in Schuld.
«Aber ist dies wirklich Schuld?», könnte man einwenden. Können wir auch schuldig sein, wenn uns kein fehlerhaftes Verhalten, keine Rechtsübertretung und keine moralische Verfehlung vorgeworfen werden kann? Schuldig allein dadurch, dass wir da sind und unter Daseinsbedingungen stehen?5 Wir können in der Tat versuchen, diese Art von Schuld von uns zu weisen und uns mit der Beteuerung, dass uns – an menschlichen Massstäben gemessen – nichts vorzuwerfen sei, ein reines Gewissen verschaffen. Zu unserer Entlastung können wir geltend machen, dass schliesslich auch wir selbst den Preis für das Tun und Lassen anderer zu zahlen hätten und wir auch selbst Opfer seien.
Gewiss, man kann derart argumentieren und sich die Dinge so zurechtlegen. Sogenannt anständig gewesen zu sein, sich nichts vorwerfen lassen zu müssen, wird dann zum höchsten Massstab. Aber ist dies schon alles? Es ist vor allem eines: ein die-Augen-Verschliessen und den Kopf in den Sand stecken. Man folgt dem Verhaltensmuster, mit dem man sich auch jeder der anderen Grenzsituationen entziehen kann. Man nistet sich ein im alltäglichen Dasein, geht auf in der Betriebsamkeit des Lebens, orientiert sich am Beifall der andern, vertraut dem rechnenden Verstand und erhofft sich so, was in der alltäglichen Haltung allein wichtig erscheint: aus jeder Situation den grösstmöglichen Nutzen zu ziehen, was immer dieser sein mag. Mit dieser Haltung ist man von jeder Erschütterung und von dem Aufprall an der Grenze meilenweit entfernt. Man funktioniert, aber man existiert nicht.
Wie kann es trotzdem zur Umkehr kommen? Der Anstoss kann nur aus der konkreten Situation heraus erfolgen, in der wir uns befinden – immer vorausgesetzt, dass wir uns anstossen lassen. Statt abstrakt darüber reden, möchte ich am Beispiel von Jaspers vor Augen führen, wie er als Deutscher vor und nach dem Krieg die Grenzsituation der Schuld erfahren hat.
Karl Jaspers Stellungnahme zur Grenzsituation der deutschen Schuld
1945 lag Deutschland am Boden, physisch, politisch und moralisch. Der Verbrecherstaat der Nazis zwar war besiegt, dafür war das Land nun, von aller Welt verachtet, auf Gedeih und Verderb den Siegermächten ausgeliefert. Die Not der Bevölkerung war grenzenlos, auch wenn sie die einzelnen unterschiedlich traf, je nach sozialer Situation: als Ausgebombte, Kriegsversehrte, Angehörige der vier Millionen Gefallenen, als Flüchtlinge, Vertriebene, Internierte, Kriegsgefangene, KZ-Rückkehrer. Jaspers jedoch setzt nicht bei diesem Leid und dieser Not an. Im Zentrum steht für ihn die geistige Not: der Umstand, dass diese Katastrophe nicht unerklärliches Schicksal, sondern selbst verschuldet war, und dass die Schuld Deutschlands und der Deutschen weltweit mit Empörung, Grauen, Hass und Verachtung erörtert wurde und nach Strafe und Vergeltung rief. Konnte ein ganzes Volk auf diese Weise schuldig gesprochen werden? Hatte es nicht genug gebüsst durch das Leiden und die Not, in der es sich befand?
Jaspers als Philosoph sah es als seine Aufgabe an, sich dieser Frage zu stellen. Mit ihr nimmt er in einer Vorlesungsreihe im Wintersemester 1945/46 seine Lehrtätigkeit wieder auf, nach acht Jahren des Lehr- und faktischen Publikationsverbots unter der Nazi-Herrschaft. Der Inhalt der Vorlesung erscheint 1946 als Buch unter dem Titel «Die Schuldfrage» [3]. Jaspers wollte mit dieser Vorlesung und diesem Buch den Anfang machen mit dem, was in der Nazi-Zeit unmöglich war: über das Geschehene öffentlich reden und miteinander nachdenken. Keiner sollte dabei Richter des andern sein, jeder sollte vielmehr selber in die Rolle des Richters und des Angeklagten treten und sich selbst prüfen.
Miteinander reden können wir nur, wenn wir wissen, worüber wir reden. Im Sommer 1945 hingen in den Dörfern und Städten Deutschlands Plakate mit Bildern und Berichten aus Bergen-Belsen und dem Satz darunter: «Das ist Eure Schuld!». Konnte ein Volk als Ganzes schuldig sein? Ein jeder in gleichem Sinn und in gleichem Masse? Dies war die Frage, von der Jaspers ausging und die ihn als erstes dazu führte, auf die verschiedenen Bedeutungen hinzuweisen, in denen von Schuld die Rede sein kann [3, S. 19-32].
- Es gibt die «kriminelle Schuld» des Verbrechers, der objektiv nachweisbar Taten begangen hat, die gegen Gesetze verstossen. Über sie zu urteilen, ist Sache der Gerichte.
- Es gibt die «politische Schuld» für die Handlungen der Führer eines Staats, für die jeder Staatsbürger mithaftet, der in der Ordnung dieses Staates gelebt hat, denn jeder Staatsbürger ist mitverantwortlich für die Art und Weise, wie er regiert wird. Mithaften heisst für Deutsche, die Sanktionen mittragen, welche die Siegermächte Deutschland als Wiedergutmachungsschuld auferlegt haben.
- Es gibt die «moralische Schuld» jedes einzelnen für die moralisch verwerflichen Handlungen, die er selber begangen hat, auch für politische und militärische Handlungen, denn moralisch gilt nie: Befehl ist Befehl.
- Es gibt schliesslich die «metaphysische Schuld», die Schuld, die wir auf uns laden, wenn wir die Solidarität verraten, die zwischen Menschen als Menschen besteht und die einen jeden verantwortlich macht für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, bin ich schuldig auf eine Weise, die sich juristisch, politisch und moralisch nicht fassen lässt. Dass ich noch lebe, wenn solches geschieht, so Jaspers’ Kernsatz, ist meine Schuld [3, S.54].
Jaspers Überlegungen dazu: Es gibt die eine letzte Frage, vor die jeder unter den Nazis Lebende sich gestellt sehen musste: Setze ich bedingungslos mein eigenes Leben ein, auch wenn ich damit nichts ausrichte und selber untergehe, oder ziehe ich es vor, am Leben zu bleiben, um so die Möglichkeit zu bewahren, überhaupt noch handeln zu können. Und bin ich mir im Klaren, dass ich mich, wie immer ich entscheide, schuldig machen werde? Wenn ich schweige, mache ich mich schuldig, dem Mitmenschen nicht die unbedingte Solidarität erwiesen zu haben, die für mich unabdingbar wäre, wenn es um das Schicksal der mir nahestehenden Menschen ginge (mit denen ich selber auch in den Tod ginge). (Für Jaspers und seine jüdische Frau lagen darum die Zyankalikapseln immer auf dem Nachttisch griffbereit für den ständig drohenden Fall, dass die Gestapo plötzlich vor der Tür stehen würde.) Wenn ich mich zwecklos opfere, ohne damit etwas bewirken zu können (und ohne Hoffnung, zumindest dadurch zu wirken, dass ich mit meiner Tat in die Erinnerung anderer eingehe), mache ich mich schuldig, nicht getan zu haben, was ich – dem Märtyrertum entsagend – zur Linderung des Leids anderer vielleicht doch noch hätte tun können.
Wer auf diesen Punkt der Entscheidung gestellt wird, dem helfen auch moralische Überlegungen nicht weiter: Denn es gibt keine Pflicht, namenloser Märtyrer zu werden.6 Der Sinn moralischen Handelns liegt im Wirken für diese Welt und in dieser Welt. Eine Tat, von der keinerlei Wirkung erwartet werden darf, ist moralisch sinnlos. Für alle verständlich mag darum die Entscheidung sein von Peter Bamm in seiner Situation als Lazarettleiter an der Ostfront, von der er in seinem Buch «die Unsichtbare Flagge» berichtet: «Wir wussten, dass Juden vergast wurden in der Nähe unseres Lazaretts. Aber wir taten nichts, denn wir wussten: Jeder, der wirklich protestiert oder gar etwas gegen das Mordkommando unternommen hätte, wäre vierundzwanzig Stunden später verhaftet worden und verschwunden. Sein Leben wäre nutzlos geopfert worden».7
Die Überlegungen von Jaspers weiterführend, kann man fragen: Kann man sich mit diesem Argument von Bamm beruhigen und zur Tagesordnung übergehen? Genügt es, ein sogenannt anständiger Mensch gewesen zu sein, der, ohne selber mitzuwirken an den Verbrechen der Anderen, tapfer seine Pflicht an seinem Ort tut, sich aber hütet, sein Leben nutzlos zu opfern? Muss nicht vielmehr jeder, der das Wesen dieses Verbrecherstaats durchschaut hat, sich im Klaren darüber sein, dass alles Wirken unter der Flagge dieses Staats Komplizenschaft bedeutet, und jegliche Handlung, sei sie noch so gut gemeint, nur dem allgegenwärtigen Bösen dient? Wer sich solchen Fragen redlich stellt, und das kann jeder nur für sich allein, muss im Grunde verzweifeln. Alles, was er für gut hält und wofür er kämpft, ist mit dem von ihm bekämpften Bösen durchsetzt, sein im Unheil selber heillos gewordene Leben zwar nicht nutzlos, aber sinnlos vertan. Er erfährt sein absolutes Scheitern in der Grenzsituation der Schuld und muss nun entscheiden, wo er hin will damit. Dennoch weiterleben, das Gute tun, das ihm zu tun noch möglich bleibt, wohl wissend, dass er allein dadurch, dass er noch lebt, bereits schuldig wird? Zum Zyniker werden, der um das Böse wissend diesem noch etwas nachhilft mit seinem eigenen Tun? Oder einfach die Augen schliessen und sich dies alles nichts angehen lassen?
Wie immer er sich entscheidet, es ist eine Entscheidung, für die man nicht mit Gründen und Gegengründen und mit guten Ratschlägen aufwarten kann, es ist die Entscheidung darüber, welche Art von Mensch man sein will. Nicht in dieser oder jener Hinsicht, nicht bezogen auf diesen oder jenen Zweck, sondern unbedingt. Auf dem Weg zu dieser Entscheidung bleibt dem Einzelnen nur die Wahl, entweder in dumpfe Verzweiflung zu versinken oder der Wahrheit ins Auge zu blicken und im Gespräch mit sich selbst und – wenn ihm diese Möglichkeit geschenkt ist – im Gespräch mit dem geliebten Anderen, sich klar zu werden versuchen, wer er selbst sein will.
Warum aber soll ich diesen zweiten Weg der Wahrhaftigkeit und der Selbsterhellung wählen? Und warum sollte das, was mir dabei über mich selbst aufgeht, überhaupt von Bedeutung sein? Hier kann nun die Einsicht weiterhelfen, die wir auf dem Weg des philosophischen Abstandnehmens gewonnen haben: Undenkbar und unvorstellbar zwar ist jenes jenseits aller Grenzen und Grenzsituationen liegende Sein, aber ist es nicht möglich, dass mir von dorther auf mir unbegreifliche Weise die Gewissheit zukommen kann, was ich – ich allein ‒ hier und jetzt zu tun habe? Und ist es nicht der Glaube an einen solchen ewigen Sinn meines Tuns, der mir auch die Kraft geben könnte, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen?
Aus einem solchen Glauben heraus kann ein Mensch vielleicht die existentielle Entscheidung treffen, den namenlosen Opfertod zu suchen (auch wenn wir vor einer solchen Tat wie vor einem Rätsel stehen), oder aber die gegenteilige: sein Leben einzusetzen, um das Menschenmögliche und moralisch Verantwortbare im Kampf gegen das Böse zu tun. Doch wie er sich auch entscheidet, er wird es ohne Stolz tun und ohne das Gefühl, besser zu sein als andere, sondern in Demut, wohl wissend, dass er mit seiner Entscheidung unausweichlich schuldig wird.
Aus dem Abstand der Unendlichkeit aber, im Glauben an diesen ewigen Sinn, kann ihm dennoch jene Ruhe und Gelassenheit geschenkt werden, in der er auch sein Scheitern noch als Hinweis auf ein ewiges Sein erfährt. Dass es dieses Sein gibt, muss ihm genügen. Er mag es nun Gott nennen und mit dem Gott seiner Religion gleichsetzen oder aber – wie Jaspers – von Transzendenz sprechen, um zum Ausdruck zu bringen, dass das eigentliche Sein für uns nicht zu fassen ist und alle unsere Vorstellungen von Gott und Göttern überschreitet.
Solche Sätze mögen in den Ohren vieler abartig klingen, und vielleicht wäre Schweigen besser als diese Worte – um mitteilbar zu machen, was mit einem Menschen geschieht, der Grenzsituationen erlebt. Es mag auch nicht die Grenzsituation der Schuld sein, die ihn in Unruhe versetzt: Es kann der Gedanke sein an den jederzeit möglichen Tod und die daran sich entzündende Frage nach dem Sinn seines Lebens oder die Erschütterung über das unendliche Leid, das Menschen erleiden müssen und sich gegenseitig antun, oder die plötzliche Betroffenheit durch das Wechselspiel der Zufälle. Jeder wird die Grenzsituation auf seine Weise erleben - solange er sich nicht einschliesst in die Positivitäten des Lebens, wie man es nun einmal so lebt.8 Im einsamen Gespräch mit sich selbst und im Dialog mit den Menschen, die ihn lieben, wird er darum kämpfen müssen, seinen Halt zu gewinnen, wenn alles bodenlos wird. Anleitungen dazu gibt es keine, keine Kurse, keine Techniken und keine Therapien – ausser es wären Therapien, die eher der Vertuschung der Grenzsituation als ihrer Erhellung dienen. Hier gibt es nichts zu kalkulieren und nichts zu planen, denn einmalig wie die vom Einzelnen erfahrene Grenzsituation ist auch die Antwort auf diese Situation.
Entscheidend ist allein, was aus uns wird, in unserer Antwort auf die Grenzsituation. Und weil nur dann, wenn etwas mit uns geschieht, wir selbst, als Existierende wirklich involviert sind, gilt der Satz von Jaspers: «Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe.» [1, S. 204]. Die möglichen Verhaltensweisen gegenüber einer Grenzsituation – dies hat Jaspers in aller Klarheit aufgezeigt – bleiben sich jedoch gleich: Entweder Flucht durch Verschleierung und Vertuschung oder abgrundtiefe Verzweiflung oder aber der Aufschwung zu einem anderen Seinsbewusstsein, der es ermöglicht, das unerklärbare Rätsel der Zerrissenheit unseres Daseins hinzunehmen und sich vertrauensvoll zu beugen unter dem uns auferlegten Schicksal.
Mit Jaspers eigenen Worten ausgedrückt: «Es ist entscheidend für den Menschen, wie er das Scheitern erfährt: ob es ihm verborgen bleibt und ihn nur faktisch am Ende überwältigt, oder ob er es unverschleiert zu sehen vermag und als ständige Grenze seines Daseins gegenwärtig hat; ob er phantastische Lösungen und Beruhigungen ergreift, oder ob er redlich hinnimmt im Schweigen vor dem Undeutbaren. Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet, wozu der Mensch wird. In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts, oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Weltsein eigentlich ist. Selbst die Verzweiflung wird durch ihre Tatsächlichkeit, dass sie in der Welt möglich ist, ein Zeiger über die Welt hinaus. Anders gesagt: der Mensch sucht Erlösung. Erlösung wird geboten durch die grossen, universalen Erlösungsreligionen [...]. Dies vermag Philosophie nicht zu geben. Und doch ist alles Philosophieren ein Weltüberwinden, ein Analogon der Erlösung.» [4, S. 23f.]
Fussnoten
1 [1, S. 204]
2 Der Begriff wird von Jaspers erstmals 1919 in der «Psychologie der Weltanschauungen» [5, S. 229-280] eingeführt und philosophisch auf etwas andere Weise entfaltet im 2. Band der «Philosophie» (1932) [1, S. 201-254].
3 Zu Jaspers’ Unterscheidung zwischen Grund- und Grenzsituation vgl. [6, S. 318f].
4 Ein mögliches zweites Mittel, sich aus Abstand der Grenzsituation zu nähern, ist die Vergegenwärtigung tragischen Geschehens durch Theater und Literatur, vgl [7].
5 Für historisch Interessierte: Der Gedanke einer Daseinsschuld ist bereits angelegt in dem ältesten Satz der Philosophie, dem Spruch des Anaximander: «Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Busse für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.» [8, S. 14]. Dass es eine totale Schuld gibt, die wir zu verantworten haben und nicht die Macht, die uns ins Dasein gestellt hat – eine «Schuld, die es in letzter Instanz möglich macht, dass einer in dem Einzelnen schuldig oder nicht schuldig sein kann» - daran erinnert eindringlich Kierkegaard [9, S. 239; vgl. auch 235ff.]. Von diesem Gedanken Kierkegaards zehren wohl alle Autoren des 20. Jahrhunderts, die mit einer solchen Totalitätsbestimmung operieren: von Heidegger (Das «Dasein» «kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, dass das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann» [10, S. 286]) bis hin zu Sartre, mit seinem zur Freiheit verurteilten Menschen («Verurteilt, weil er sich nicht selbst geschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut» [11, S. 155]). Jaspers am nächsten noch steht vielleicht Camus’ Mensch in der Revolte, der im Namen der Solidarität, die Menschen in der Schicksalsgemeinschaft der Menschen sich gegenseitig schulden, gegen das Unrecht revoltiert, das hier und jetzt geschieht [vgl 12, S. 17-27].
6 Erhellend dazu ist Jaspers’ Auseinandersetzung mit Hannah Arendt in der Frage des sogenannten «deutschen Gewissens» [vgl 13].
7 Jaspers stösst sich an Hannah Arendts Bemerkung, die Einstellung des von ihm geschätzten Peter Bamm sei «belanglos» [zit. aus 13, S. 100].
8 Um Grenzsituationen erkennen, annehmen und bewältigen zu können, bedarf es allerdings eines Mindestmasses an Festigkeit, Mut und Reflexionsvermögen. Wenn diese Voraussetzungen fehlen, können für Grenzsituationen sensible Menschen auf traumatische Weise «verwundbar» sein vgl [14].
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Correspondence
Prof. em. Dr. phil. Anton Hügli, Universität Basel, 4031 Basel, anton.huegli[at]unibas.ch
Literatur
1 Jaspers K. Philosophie, Bd. 2: Existenzerhellung. Berlin/Heidelberg/New York: Springer; 1973.
2 Latzel E. Die Erhellung der Grenzsituationen. Sinn und Methode der „Existenzerhellung“, untersucht an einem Kapitel aus der „Philosophie“ von Karl Jaspers. In: Schilpp PA. Philosophen des 20. Jh. Karl Jaspers. Stuttgart; 1957. p. 164-192.
3 Jaspers K. Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands (1946), München: Piper; 1965.
4 Jaspers K. Einführung in die Philosophie. München: Piper; 1953.
5 Jaspers, K., Psychologie der Weltanschauungen. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer; 1954.
6 Jaspers K. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. München: Piper; 1962.
7 Saner H. Kunst als Antizipation der Grenzsituationen. In: Hügli A, Kaegi D, Weidmann B, Herausgeber. Existenz und Sinn. Karl Jaspers im Kontext. Heidelberg: Universitätsverlag; 2009. p. 23-36
8 Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg: Rowohlt; 1957.
9 Kierkegaard S. Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Zweiter Teil, Düsseldorf/Köln:Diederichs,1958.
10 Heidegger M. Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag; 1957.
11 Sartre J-P. Der Existentialismus ist ein Humanismus. Hamburg: Rowohlt; 2000.
12 Camus A. Der Mensch in der Revolte, Hamburg: Rowohlt; 1958.
13 Jaspers, K., Das Gewissen, Nachlass-Manuskript, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
14 Fuchs T. Existenzielle Vulnerabilität. Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen. In: Hügli A, Kaegi D, Weidmann B, Herausgeber. Existenz und Sinn. Karl Jaspers im Kontext. Heidelberg: Universitätsverlag; 2009p. 37-56.
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