Official communications

Positionspapier – Psychische Gesundheit im Leistungssport

Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP)

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03103
Publication Date: 01.10.2020
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03103

Claussen Malte Christiana*, Gonzalez Hofmann Carlosb*, Imboden Christianc, Seifritz Erichd, Hemmeter Ulriche

a Präsident und Ressortleiter Erwachsenpsychiatrie und -psychotherapie, Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP), Ärztlicher Leiter Sportpsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich und Privatklinik Wyss AG, Münchenbuchsee

b Vizepräsident, Aktuar und Leiter Arbeitsgruppe Curriculum SGSPP, Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie, Romanshorn

c Vorstandsmitglied und Kassier SGSPP, Ärztlicher Direktor und Vorsitzender der Klinikleitung, Privatklinik Wyss AG, Münchenbuchsee

d Vorstandsmitglied und Ressortleiter Forschung und Lehre SGSPP, Ordinarius für Psychiatrie, Universität Zürich, Chefarzt und Klinikdirektor, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

e Vorstandsmitglied und Ressortleiter Alterspsychiatrie und -psychotherapie SGSPP, Chefarzt Psychiatrie St. Gallen Nord

Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP)

Der Zweck der SGSPP ist die Förderung der Sportpsychiatrie und -psychotherapie in der Schweiz, über die Lebensspanne sowohl im Leistungssport und als auch in der Allgemeinbevölkerung. Hieraus ergeben sich zwei Tätigkeitsfelder: 1. Psychische Gesundheit im Leistungssport; 2. Sport und Bewegung in Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen.

Weitere Informationen zu den Aktivitäten der SGSPP finden sich unter: www.sgspp.ch.

Psychische und soziale Belastungen sind wie körperliche Belastungen fester Bestandteil des Leistungssports. Für den Erhalt der körperlichen Gesundheit im Leistungssport gibt es im derzeit mehrheitlich praktizierten Versorgungsmodell Experten1 beziehungsweise eine Fachdisziplin für die körperliche Gesundheit (Sportmediziner ohne Weiterbildung in den psychiatrischen Fachgebieten und Schwerpunkten). Eine Fachdisziplin für die psychische Gesundheit, das heisst für sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Fragestellungen qualifizierte Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Sportpsychiater und -psychotherapeuten) sind im Leistungssport zumeist (noch) nicht vorgesehen. Die psychischen Komponenten im Leistungssport wurden bisher, vor allem durch die leistungs- und resilienzfördernden und mentalen Faktoren, in gut entwickelten Konzepten der Sportpsychologie respektive des mentalen Trainings berücksichtigt.

Ausgangslage

Psychische Belastungen und Erkrankungen sind im Leistungssport häufig, können sich sportspezifisch manifestieren und überdies die Leistung mindern [1]. Psychische und körperliche Gesundheit können im Leistungssport – genauso wenig wie in der Allgemeinbevölkerung – nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Psychisches Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit bedingen sich gegenseitig [ibid.]: Psychische Belastungen und Erkrankungen im Sport können Einfluss auf die Leistung haben, das Risiko für körperliche Verletzungen erhöhen und die Rehabilitation verlängern. Verletzungen wiederum haben einen Einfluss auf die Leistung und sind Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit. Nicht erkannte oder nicht adäquat berücksichtigte psychische Belastungen und Erkrankungen bei Leistungssportlern können – wie bei Nichtsportlern – zu gravierenden gesundheitlichen und letztlich auch existentiellen Konsequenzen führen [ibid.].

Die Anforderungen im Leistungssport erfordern eine sichere Beurteilung der Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit (Prävention) sowie eine exakte Diagnostik, Therapie und Nachsorge bereits subklinischer psychischer Erkrankungen mit Berücksichtigung der leistungsportbezogenen Faktoren. Die Psychiatrie und Psychotherapie und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sind die einzigen Fachdisziplinen, die in einem bio-psycho-sozialen Modell und Verständnis psychischer Erkrankungen den genannten Anforderungen vollumfänglich gerecht werden können. Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie als qualifizierte Fachdisziplin für die psychische Gesundheit soll die bisherigen gesundheitsfördernden Massnahmen und Bemühungen um die psychische Gesundheit im Leistungssport ergänzen, in einer dann gesamtmedizinischen Versorgung.

Um das Bewusstsein für die Bedeutung der psychischen Gesundheit im Leistungssport in der Schweiz zu fördern, wurde am 29. März 2019 die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) gegründet. Weitere Themen der SGSPP sind die psychische Gesundheit im Breitensport sowie die Förderung von Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen.

Lange Zeit wurde von der Psychiatrie und Psychotherapie die psychische Gesundheit im Leistungssport nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandelt. Dies zeigt sich insbesondere in den erst vereinzelt zur Verfügung stehenden sportpsychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsangeboten für Leistungssportler in Kliniken und Praxen sowie dem Fehlen einer strukturierten, spezialisierten Weiterbildung und vernetzten Versorgung in Sportpsychiatrie und -psychotherapie.

Problemfelder

Im Leistungssport gibt es über das bereits Genannte hinaus weitere Aspekte in Hinblick auf die psychische Gesundheit, die zu berücksichtigen sind:

  • − Trotz Berichten von teilweise sehr prominenten Sportlern über ihre psychischen Belastungen und Erkrankungen während und nach ihrer sportlichen Laufbahn ist eine weiterhin bestehende Stigmatisierung psychischer Belastungen und Erkrankungen im Leistungssport zu verzeichnen.
  • − Diese Stigmatisierung ist zumindest mitbedingt durch ein mitunter fehlendes oder unzureichendes Bewusstsein und Wissen über die psychischen Belastungen im Leistungssport und/oder den empirisch begründeten Umgang mit diesen Risiken für die psychische Gesundheit.
  • − Mentale Stärke und psychische Gesundheit im Leistungssport sind nicht das Gleiche und voneinander abzugrenzen.
  • − Die Grenzen zwischen leistungssporttypischen und nicht behandlungsbedürftigen Beschwerden – zwischen Gesundheit und Erkrankungen – wie zum Beispiel zwischen Wettkampfängstlichkeit und einer Angststörung sind fliessend.
  • − Gleiches gilt für Beratung und Coaching gegenüber der Psychotherapie. Dies eröffnet ein Spannungsfeld zwischen inadäquater respektive Unterversorgung einerseits und dem Risiko der Psychiatrisierung nicht oder nicht zwingend behandlungsbedürftiger Beschwerden – im Sinne von situationsadäquaten Reaktionen und Verhaltensweisen – andererseits.
  • − Wesentliche Bereiche des Leistungssports beziehen sich auf die Adoleszenz, also den Bereich des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsensein. Im Laufe der Adoleszenz ändern sich zahlreiche Belastungsfaktoren, weswegen der Einbezug von Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten ebenso wie von Psychiatern und Psychotherapeuten unabdingbar ist. Für die Übergangsphasen, einschliesslich Therapeutenwechsel, sind Kooperationsmodelle zu entwickeln.
  • − Spezifische sportartbezogene psychische Belastungen und Risikofaktoren sind zu berücksichtigen. Sie müssen weiter herausgearbeitet und in die Behandlung integriert werden, genauso wie die allgemeinen sportspezifischen psychischen Anforderungen und Risiken.
  • − Psychische Belastungen und Erkrankungen unabhängig vom Leistungssportkontext können genauso bei Leistungssportlern auftreten und bedürfen dann genauso einer evidenzbasierten, leitlinienkonformen Behandlung, die empirisch fundiert ist.
  • − Prävention ist wie Diagnostik und Therapie genuine ärztliche Tätigkeit, die alle Aspekte ärztlichen Handelns durchdringt. Der Erhalt der psychischen Gesundheit im Leistungssport ist zentral, es ist daher auf der Ebene des Sportlers, der Eltern sowie des weiteren psychosozialen Umfelds und genauso in den Vereinen und Verbänden im Rahmen einer systemischen Herangehensweise anzusetzen.

Sportpsychiatrie und -psychotherapie und angrenzende Disziplinen

Im Kontext der psychischen Gesundheit gibt es für Athleten im Leistungssport verschiedene professionelle Helfer (unter anderem Sportmediziner, Sportpsychologen, Mentaltrainer, psychologische Psychotherapeuten), die jeweils einen unterschiedlichen fachlichen Hintergrund, einen unterschiedlichen Blickwinkel und zum Teil auch einen unterschiedlichen Auftrag gegenüber den Athleten haben. Wichtig ist es, dass diese verschiedenen Fachleute und -disziplinen transparent und empirisch begründet ihre Qualifikationen und Kompetenzen für die psychische Gesundheit einerseits und für die Behandlung psychischer Belastungen und Erkrankungen andererseits sichtbar machen. Für den Umgang mit Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit im Leistungssport sowie für die fachgerechte Diagnostik, Therapie und Nachsorge psychischer Belastungen und Erkrankungen im Kontext des Leistungssports braucht es eine spezialisierte Fachdisziplin. Die Basisanforderungen an eine solche Fachdisziplin (Sportpsychiater und -psychotherapeuten) ergeben sich aus den besonderen Umständen und Notwendigkeiten im Leistungssport. Nach der Ausbildung in, respektive dem Studium der Medizin, beinhalten diese Anforderungen eine mehrjährige Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapie in einem der psychiatrischen Fachgebiete Psychiatrie und Psychotherapie oder/und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, optimalerweise mit zusätzlicher vertiefender psychosomatischer und neurologischer Weiter- und Fortbildung. Auf diesen basalen Anforderungen müssen dann die notwendigen weiteren spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten der Sportpsychiatrie und -psychotherapie erworben werden.

Für die Sportpsychiatrie und -psychotherapie ergeben sich mit den oben genannten Disziplinen sowohl verschiedene Schnittmengen als auch Abgrenzungen, die es zu berücksichtigen und koordinieren gilt. Gleichermassen gibt es unterschiedliche Auftragsverhältnisse, wie zum Beispiel höchstpersönliche, vereins- oder verbandsgebundene Verhältnisse und Verträge. Dies kann schwierige und komplexe Situationen – allein schon bei gegebenen, eingeschränkten oder aufgehobenen Schweigepflichten – zur Folge haben. Hierdurch können sich Spannungsfelder ergeben. Es bedarf daher der Etablierung sowohl des interprofessionellen Austausches als auch der Kooperation in Ausbildung und Praxis, um die jeweilige Expertise der verschiedenen genannten Experten im Sinne der Athleten einsetzen zu können und eine grösstmögliche Transparenz zu erreichen.

Ansatzpunkte

Die SGSPP setzt sich für eine Verbesserung der psychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung im Leistungssport durch Etablierung der Sportpsychiatrie und -psychotherapie als professionelle und spezialisierte Fachdisziplin für die psychische Gesundheit, über die aktive sportliche Laufbahn hinaus, ein. Dies betrifft neben den Sportlern auch Trainer und Schiedsrichter.

Es ergeben sich hierzu folgende Ansatzpunkte:

  • − Die Qualifikation von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie respektive Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Sinne einer ausgewiesenen Expertise in Sportpsychiatrie und -psychotherapie mit einem Qualifikationsnachweis (Curriculum Sportpsychiatrie und -psychotherapie [2]).
  • − Die praktische und inhaltliche Kooperation innerhalb der Medizin mit Sportmedizinern, Psychiatern und Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten und weiteren medizinischen Fachrichtungen und Disziplinen sowie psychologischen Psychotherapeuten, Sportpsychologen, Mentaltrainern und anderen in den Leistungssport involvierten Berufsgruppen.
  • − Der Einbezug von Athleten und Eltern, weiteren Mitgliedern des persönlichen psychosozialen Umfelds, Beratern sowie von Vereinen und Verbänden.

Empfehlungen

Die Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Expertise im Leistungssport soll durch die Etablierung einer Fachdisziplin für die psychische Gesundheit (Sportpsychiatrie und -psychotherapie) innerhalb der Medizin, durch ein Weiter- und Fortbildungsprogramm für Sportpsychiatrie und -psychotherapie, gewährleistet werden [2]. Die Förderung von Inhalten der Sportpsychiatrie und -psychotherapie in den Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogrammen der medizinischen und nicht-medizinischen Fachrichtungen und Disziplinen [ibid.] sowie weiteren Experten im Leistungssport gehört hier ebenso dazu wie interprofessionelle Intervisionen. Die SGSPP ist bereit, hierzu einen medizinischen und fundamentalen Beitrag zu leisten.

Der Erhaltung der psychischen Gesundheit im Leistungssport ist die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie der Diagnostik und Therapie sowie der Nachsorge psychischer Belastungen und Erkrankungen. Zur Stärkung der notwendigen Massnahmen für den Erhalt oder die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit soll zudem eine entsprechende sportpsychiatrische und -psychotherapeutische Aufklärung und Wissensvermittlung in Vereinen und Verbänden (z.B. bei der Trainerausbildung) erfolgen.

Die Einrichtung einer Fach- und Koordinationsstelle für die psychische Gesundheit beziehungsweise Sportpsychiatrie und -psychotherapie in Vereinen und Verbänden ist von zentraler Bedeutung für die Verbesserung des derzeitigen Versorgungsmodells im Leistungssport. Dies würde der Stigmatisierung psychischer Belastungen und Erkrankungen im Leistungssport entgegenwirken und zu einer besseren Versorgung durch schnellere Behandlung der betroffenen Athleten führen.

Durch bessere Koordination sollen Synergieeffekte erzielt werden, die zu einer besseren Versorgung der Athleten führen. Das FMH-Positionspapier zur Interprofessionalität gibt den Rahmen hierfür vor [3]:

„Jeder Chance geht eine Herausforderung voraus: Die Klüfte zwischen den Gesundheitsberufen müssen geschlossen werden, damit eine echte Zusammenarbeit auf Grundlage neuer und verstärkter Synergien entstehen kann und die Sicherheit der Patientinnen und Patienten gewährleistet ist. Dabei gilt es, in einem klar definierten ethischen Rahmen die Rolle aller Beteiligten festzulegen, dies unter Berücksichtigung der jeweiligen Kompetenzen der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen.“

Es ist den Athleten gegenüber auf Transparenz bezüglich der Auftragsverhältnisse und der damit verbundenen Regelungen zur Schweigepflicht zu achten.

Fussnote

1 Im Positionspapier werden Personenbezeichnungen einheitlich und neutral für beide Geschlechter verwendet: zum Beispiel «Experte» für «Experte» und «Expertin».

Disclosure statement

No financial support and no other potential conflict of interest relevant to this article was reported.

Correspondence

Dr. med. Malte Christian Claussen, c/o Sportpsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Lenggstrasse 31, CH-8032 Zürich, malte.claussen[at]puk.zh.ch

Literatur

1 Reardon CL, Hainline B, Aron CM, Baron D, Baum AL, Bindra A, et al.Mental health in elite athletes: International Olympic Committee consensus statement (2019). Br J Sports Med. 2019;53(11):667–99. doi:. http://dx.doi.org/10.1136/bjsports-2019-100715 PubMed

2 Claussen MC, Imboden C, Seifritz E, Hemmeter U, Gonzalez Hofmann C. SGSPP-Curriculum Sportpsychiatrie und -psychotherapie: Stufe 1. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03111.

3 Zentralvorstand der FMH. Interprofessionalität. Schweiz Arzteztg. 2018;99(44):1522–3.

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