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Resilienz in der Renaissance: Thomas Platter, vom Verdingkind zum Professor

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03109
Publication Date: 08.06.2020
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03109

Kesselring Jürga, Hasler Gregorb

a Rehabilitationszentrum Kliniken Valens, Valens, Schweiz

b Freiburger Netzwerk für Psychische Gesundheit FNPG, Villars-sur-Glâne, Schweiz

In den Lebensbeschreibungen des Renaissance-Gelehrten Thomas Platter (1499–1582) und den zahlreichen Kommentaren dazu finden wir viele Elemente, die in der heutigen Forschung als wichtige Grundvoraussetzungen und trainierbare Faktoren für Resilienz gelten.

Thomas Platter im Neujahrsblatt der Gesellschaft auf der Chorherrenstube

Im Neujahrsblatt auf das Neujahr 1812 der Gesellschaft auf der Chorherrenstube «an die lernbegierige Zürcherische Jugend» (Abb. 1 und 2) [1] wird Resilienz im Klartext beschrieben im Hinweis auf die Lebenserinnerungen des Thomas Platter: «Wenn aus Kindern, für deren Erziehung und glückliche Ausbildung von ihren ersten Jahren an viel gethan wurde, am Ende wackere Leute werden, welche durch ihre Talente und Geschicklichkeit der Welt Nutzen schaffen, so ist es sich darob nicht zu verwundern. Verwundern würde man sich mit Recht, wenn das Gegenteil geschähe, und sie von dem auf sie verwandten Capital keine Zinsen trügen. Aber unsere und gewiss auch euere Bewunderung erregt sich der Mensch, welcher unter den allerwiderwärtigsten Umständen gebohren, ohne alle Erziehung, in der bittersten Armuth, unter sittenlosen Menschen aufgewachsen, dennoch zum Manne wird, der die Zierde und ein Segen seines Zeitalters ist. Dieses war der Fall mit Thomas Platter, einem Zeitgenossen und Gehülfen der Reformation.»

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Abbildung 1
Neujahrsblatt 1812.
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Abbildung 2
Titelblatt des Neujahrsblattes 1812.

«Da ich bei sechs Jahren alt war», schreibt Platter in seiner für seinen Sohn (Felix) aufgesetzten Lebensbeschreibung, «hat man mich zu einem Vetter getan, dem musste ich ein Jahr der Gitzen bei dem Hause hüten. Da mag ich mich denken, dass ich etwann im Schnee besteckt, dass ich kaum daraus möchte‘ kommen, mir oft die Schühlein dahinter blieben und ich barfuss zitternd heimkam… Da war ich noch so klein, dass, wenn ich den Stall aufthat und nicht gleich neben sich sprang, stiessen mich die Geissen nieder, loffen über mich weg und traten mir auf den Kopf, Arme und Rücken. Wann ich dann die Geissen über die Vispen (ein Wasser) getrieben hatte, liefen mir die ersten in die Kornäcker; wann ich die daraus trieb, liefen die andern darein; da weinte ich dann und schrie, denn ich wusste wohl, dass man mich zu Nacht würde schlagen. Wann aber dann mehr Geisshirten zu mir kommen von andern Bauern, die hulfen mir dann, in Sonderheit eigener, der war gross, hiess Thomann im Leidenbach [der alte und gelehrte Platter hat den Namen seines jugendlichen Wohlthäters nicht vergessen!], den erbarmet ich und er tat mir viel Gutes.»

Weiter heisst es im erwähnten Neujahrsblatt 1812: «Ein ander Mahl gingen meine Geislein auf einen Felslein, es war eines guten Schrittes breit, und darunter grausam tief, gewiss mehr dann tausend Klafter hoch, nichts dann Felsen. Von dem Felsen ging eine Geists der andern nach über einen Schroffen hinauf, dass sie bloss die Füsskläuelein möchte stellen auf die Krautböschlein, die auf dem Felsen gewachsen waren. Wie sie nun aufhin waren, wollt‘ ich auch nach, als ich aber nicht mehr als ein Schrittlein mich am Gras hatte aufgezogen, konnte ich nicht weiter kommen, möchte auch nicht wieder auf das Schröfflein schreiten, und durfte noch viel minder hindersich springen, denn ich förchtete, wenn ich hindersich spränge, ich würde Übergnepfen, und über den grausamen Felsen hinabfallen; blieb also eine gute Weile stehen, und wartete auf die Hülf Gottes, indem ich mich mit beyden Händen an einem Grasböschen hielt, und mit dem grossen Zehlein auf einem Böschlein stuhnd. In dieser Not war mir sehr angst, denn ich förchtete, die grossen Geyer die unter mir in den Lüften flogen, möchten mich hinweg tragen wie dann etwann in den Alpen geschieht, dass die Geyer Kinder und junge Schaaf hinweg tragen. Dieweil ich nun dastuhnd und mir der Wind mein Gewändlein hinden aufwehete, so ersieht mich mein Gesell Thomann von weitem, und ruft mir: Thömeli, nun stand still! Gaht hinzu auf das Felslein, nihmt mich beym Arm und tragt mich wieder hindersich, da wir den aufkommen möchten zu den Geissen.

‹Solch gut Leben› setzte er nach mehreren ähnlichen Histörchen bey ‹hab ich in Menge auf den Bergen bei den Geissen gehabt, die vergessen sind.›

Doch wir wollen den munteren Hirtenknaben auch in die Ferne begleiten, wohin er als etwa zehnjähriger Knabe, von einem älteren ihm verwandten Jüngling mitgenommen, als fahrender und bettelnder Schüler zog ... Unter dem Vorwand, auf Ausländerchen Schule Unterricht zu holen, und bettelten und stahlen sich durch bis Dresden und nach Schlesien, und – lernten Nichts…

Nach langem Herumziehen in der Welt, wobey der junge Platter unsägliches Elend ausstund, aber nichts lernte, liess er sich endlich in Zürich nieder und lag da mit ausnehmendem Fleiss den Studien ob. Damals hatte gerade unter Zwingli‘s muthigem Vortritt die Reformation in unserer Vaterstadt begonnen, welcher bald auch Platter, als heiterer Kopf von Herzen zustimmte. Indessen auch hier war seine Lage nicht köstlich. Zwar hatte er das Glück zu seiner ersten Frau eine besonders würdige, auch für ihn mütterlich sorgende Witwe zu finden … In solcher Dürftigkeit wuchs der später als Gelehrter berühmt und verdient gewordene Thomas Platter. In solcher Dürftigkeit, ohne einige wohlthätige Unterstützung, brachte er mehrere Schuljahre hier in Zürich zu, und machte bei seinem täglichen und nächtlichen Fleisse grosse Fortschritt in den Wissenschaften …

Aber ist es nicht eures Wissens und eurer Beherzigung werth, liebe Knaben und Töchtern! dass dieser und mancher andere, den die Geschichte mit Achtung nennt, mit solchen ihm im Wege stehenden, unüberwindlich scheinenden Hindernissen fast übermenschlich kämpfen musste, und sie am Ende durch seine Beharrlichkeit doch überwand, um seinen Zeitgenossen zum Segen und ein Augenmerk der dankbaren Nachwelt wurde? … Vergleicht euren heutigen festlichen Zug durch unsere Stadt, Eueren freyen Zutritt zu so mancher bedeutenden Anstalt derselben, den freundlichen Empfang, wohin Ihr kommet, und die freudige Theilnahme, welche Euere Eltern und manche auch liebende Verwandte euch erzeigen – mit Thomas Platter‘s Bettlerzuge von Wallis nach Schlesien und wieder zurück; und dann denket und sprecht: ‹Gott Lob! Wir haben esbesser. Wir wollen Gott und unseren Eltern dafür recht herzlich dankbar seyn›.» [1]

Leben und Werk

Platters Bedeutung ist nicht so einfach an einzelnen Taten oder gar Schriften festzumachen. Ausser seiner Lebensbeschreibung, die er 1572 als alter Mann in kürzester Zeit für seinen Sohn Felix (den Stadtarzt in Basel, dessen Werdegang als angehenden Arzt er eng begleitet hatte) niederschrieb, hat er kaum Bleibendes hinterlassen [28]. Es war ein genialer Gedanke, so etwas Unübliches zu tun [9]: ein Werk voll Sinn für Spannungsmomente und kernigem Ausdruck. Es gilt als eine der bedeutendsten Autobiografien des 16. Jh., wurde aber erst 1840 veröffentlicht; es ist wohl auch das älteste bekannte schriftliche Zeugnis eines Verdingkindes [10], das zugleich eine für die damalige Zeit einmalige Karriere aufzeigt [11]. Platter hat aber nicht einfach spontan und «naiv», wie oft geglaubt wurde, in wenigen Tagen «von jugend uff min laben beschriben», sondern ein wohlkonzipiertes Werk verfasst. Gefährdung, Unrast und Ungewissheit in der Jugend kontrastieren mit Erfolg, Anerkennung und abgeklärter Weisheit im Alter; dazwischen aber liegt, als Lebens- und Zeitenwende, die Reformation und mit ihr das Deutungsmuster, das Platters Autobiographie ordnet: die Prädestinationslehre [12]. Heute können wir Platters «Roman» als Beschreibung eines sozialen Aufstiegs lesen, als Dokument von Resilienz [13] oder aus Interesse am Zeitkolorit. Für ihn hingegen bedeutete seine Lebensbeschreibung Bekenntnis und Darstellung, wie Gott sein Leben geleitet, geführt und aufgefangen hat [9]. Die Lebensbeschreibung ist, wie jedes gute literarische Werk, mehrdeutig, interpretier- und damit auch wandelbar: der reformatorische, der fromme, der individualistische, der naive, der echte, der aufmüpfige, der erfolgreiche Thomas Platter ­‒ sie alle kann der jeweilige Zeitgeist in seinen Erinnerungen finden und in ihnen sich spiegeln [12]. Diese Offenheit für viele Deutungen entspringt dem Staunen, das nach Aristoteles ein Anfang der Weisheit ist: «Wie ist es miglich, das ich noch läb, stan oder gan kan, so ein lange zyt, und han nie kein glid brochen noch schädlich versert? Do hatt mich gott durch sinen engeil behuottet.» [12] Die Antwort auf diese Frage, die gegen den Schluss des Buches gestellt wird, könnte dessen Motto sein; aber da Gottes Ratschluss unergründlich ist, kann er wohl Zuversicht für das Jenseits spenden, nicht aber Gewissheit über das Diesseitige. So bleibt die Lebensbeschreibung ein Suchen, der Versuch, Ordnung in ein langes Leben zu bringen [12].

Nach seinen eigenen Angaben wurde Thomas Platter (Abb. 3) am 10. Februar 1499 in Grächen im Wallis geboren. Sein früh verstorbener Vater Anthoni deckte sich jeweils im Herbst mit Wolle ein, die er in der Gegend von Bern erstand. Thomas Platter hatte mehrere Geschwister und aus späteren Ehen seiner Mutter Ammili Summermatter Halbgeschwister. Der frühe Tod des Vaters machte ihn zum Halbwaisen. Seine Mutter verheiratete sich wieder, deshalb wurde Thomas zunächst in verschiedenen Familien platziert. Schliesslich verdingte man ihn als Geisshirt bei einem Bauern, wo er als Geissenbub vielfachen Mangel litt; und die Hütearbeit war nicht ungefährlich. Im vorindustriellen Europa war es nicht so ungewöhnlich, dass Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern und Geschwistern aufwuchsen, sondern bei Verwandten, Grosseltern, Onkeln oder sogar bei benachbarten Bauern, Handwerkern oder anderen. So wurde zum Beispiel auch Huldrych Zwingli (1484–1531), ein etwas älterer Zeitgenosse Thomas Platters, ab seinem sechsten Lebensjahr von einem Onkel aufgezogen, der in einer anderen Stadt abseits seiner Eltern und neun Geschwister lebte. Thomas Platter wuchs wie die meisten seiner Zeitgenossen in ländlichen Gegenden in Armut, Dürftigkeit und Vernachlässigung auf. Er musste von frühester Kindheit an hart arbeiten und erhielt keine formale Bildung. Er zog später mit Cousins und Cousinen auf der Suche nach einer besseren Ausbildung umher. Diese biographisch gesicherten Tatsachen weisen vielleicht nicht ganz auf den heute gebrauchten Ausdruck «Verdingkind» der einem eher moderneren Konzept entspricht, das zur Charakterisierung bestimmter Praktiken von sklavenähnlich lebenden Kindern verwendet wird.

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Abbildung 3
Hans Bock d.Ä. Bildnis des Thomas Platter, 1581. Öl auf Leinwand, 60 × 44.5 cm. Kunstmuseum Basel, Legat A. M. Legrand 1886, Inv. 83. http://sammlungonline.kunstmuseumbasel.ch

Die meiste Zeit verbrachte der junge Platter in primitiven Unterkünften, litt Hunger und Durst. Niemand kümmerte sich wirklich um ihn. Als er 10 Jahre alt war, sandte man ihn zum alten Pfarrer nach St. Niklaus, wo er lesen und schreiben lernen sollte. Diesem fehlten jedoch Geduld und Verständnis für den ungeschickten Bauernbub. Rasch geriet er in Rage und züchtigte Thomas unverhältnismässig streng. Zum Glück fand diese Episode ein baldiges Ende. Mit elf Jahren wurde er bei seinem Neffen Paulus Sommermatter verdingt, der mit andern Wallisern als Wanderstudent nach Deutschland aufbrach. Thomas war der kleinste unter den Studentengehilfen, er musste wie die anderen um Nahrung und Geld betteln und wanderte während Jahren bis nach Meissen, Schlesien, Polen und Ungarn, über Nürnberg und Dresden schliesslich bis nach Breslau. Während der fünf Jahre auf Reisen lernte Thomas die deutsche Sprache und einige Dialekte. Sein Geist war wach und interessiert. Aber oft litt er wieder Hunger und wurde von seinem Neffen geschlagen. Er sparte sich Schulgeld vom Munde ab, um einige Wochen im schlesischen Breslau, ein bisschen in München, Dresden oder andern Städten in eine Schule zu gehen, entfloh eines Tages seiner Truppe und begab sich allein ins Elsass, wo er in der dortigen Schule von Johannes Spaldius in Séléstat (Schlettstadt) Latein lernte.

Die Thematik des Jahrhunderts war die Spannung zwischen traditionellem Glauben und Reform; die Sprache das Latein. Der Weg zu einer tieferen Auseinandersetzung führte über die Schule. Die Schweizer profitierten in jener Zeit immerhin vom Erbarmen, das man überall mit ihnen hatte ‒ denn Marignano war eben erst vorbei. In Passau liessen die Wachen Platter nicht durch: Er hatte keine Schuhe, nur zerschlissene Strümpfe, und die Strassen waren vereist. Für die Geschichtsschreibung sind solche Episoden insofern wertvoll, als man kaum Bücher vor 1800 kennt, die etwas über das Leben von Kindern aussagen [9, 10, 14, 15]. Mit 16 Jahren fand er in Zürich an der Fraumünsterschule seinen ersten Lehrmeister: Oswald Myconius, Freund von Zwingli, der ihn Latein, Griechisch und Hebräisch lehrte. Von den Predigten Ulrich Zwinglis tief beeindruckt, wirkte Platter bald als privater Lehrer für Griechisch und Hebräisch und erlernte daneben die Grundzüge des Seilerhandwerks. Um 1529 heiratete er Anni Dietschin von Dübendorf, die er als Magd bei Oswald Myconius kennengelernt hatte. Aus dieser ersten Ehe gingen vier Kinder hervor, drei Töchter und ein Sohn, Felix, der später ein bekannter Stadtarzt und Anatom wurde. Die drei Töchter starben alle an der Pest.

Nachdem er 1531 Augenzeuge der Schlacht bei Kappel geworden war (in der Zwingli starb), liess sich Thomas Platter in Basel nieder. Hier übernahm er um 1535 zusammen mit Johannes Oporinus, Balthasar Lasius und Robert Winter die Offizin von Andreas Cratander, mit der sie als ihren berühmtesten Druck die erste Fassung der Christianae religionis Institutio von Johannes Calvin herausgaben. Neben seiner Tätigkeit als Drucker wirkte Thomas Platter als Griechischlehrer an der Schule «auf Burg», wurde nach dem Verkauf der Offizin 1544 dort Rektor und blieb es bis 1578. Er betrieb auch eine Pension für 40 Schüler, wurde wohlhabend und war stolz auf seinen Aufstieg, dazu gehörte auch, dass er mehrere Häuser in der Stadt sowie ein Landgut erwarb. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1572 die 25-jährige Hester Gross, mit der er sechs weitere Kinder hatte, darunter Thomas Platter den Jüngeren. Aus wissenschaftlicher Neugier befasste sich Thomas Platter der Ältere mit Medizin und führte dazu gemeinsam mit dem Chirurgen Jeckelmann, der bereits Andreas Vesalius assistiert hatte, sogar eine anatomische Sektion durch. Thomas Platter starb 1582. Sein Grab ist im Kreuzgang des Basler Münsters zu sehen.

Resilienzfaktoren

Die hier angedeutete Lebensbeschreibung von Thomas Platter und die Vertiefung über die angegebene Literatur enthält alle Elemente und Empfehlungen, die nach heutiger Auffassung [13] Resilienz als Voraussetzung für eine positive Lebensgestaltung trotz schwieriger Anfangsbedingungen möglich machen: Resilienzfaktoren, die zur kreativen, widerstandsfähigen und nachhaltigen Lebensgestaltung anregen.

Das richtige soziale Netzwerk

Als Kind erlebte Platter eine entscheidende Erfahrung in grosser Einsamkeit und Not: Thomann im Leidenbach, ein Geisshirte half ihm und unterstützte ihn selbstlos. Emmy Werner [15] fand in ihrer berühmten Kauai-Studie, dass ein solcher «nonparental carekeeper», z.B. eine Tante, ein Lehrer oder eben ein Geisshirte, der wichtigste Resilienzfaktor bei schwer vernachlässigten Kindern war, die sie über 32 Jahre nachverfolgte. Ebenfalls fand Werner, dass die Integration in eine geeigneten Peer-group für die Entwicklung von Resilienz entscheidend war. Lange war Platter in einer solcher Peer-group herumstreunender «Bacchanten» zwar weit herumgekommen, konnte sich aber innerlich nicht wirklich weiterentwickeln. Diese Peer-group war für ihn nicht optimal. Der Kontakt mit den Zürcher Reformatoren änderte dies jedoch plötzlich und bewirkte eine fruchtbringende Motivation, sicher trug dazu auch die soziale Einbettung mit seiner ersten Frau und den Kindern bei. Auch moderne Forschung an grossen Stichproben zeigt: Soziale Integration ist einer der wichtigsten Resilienzfaktoren, weil sie unserem Bindungsbedürfnis entspricht. Wird dieses über längere Zeit nicht befriedigt, entstehen körperliche und psychische Beschwerden [16].

Der richtige Wettbewerb – Menschenkenntnis

«Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiss, welcher Art der andere ist.» (Plautus)

Angst vor den anderen und soziale Unsicherheit hindern daran, dem Leben Bedeutung und Sinn zu geben. Depressive Symptome wie Lustlosigkeit, Schuldgefühle und tiefes Selbstwertgefühl können auch als Hinweis an andere verstanden werden, dass man nicht mehr in Konkurrenz zu ihnen tritt. Wettbewerb kann nur dann zu Höchstleistungen anspornen, wenn er nicht übertrieben wird. Jeder braucht sein Team, in dem Kooperation wichtiger ist als Kompetition. Sicherheit kann kompetitive Strukturen in kooperative Beziehungen umwandeln. Platters Kreativität, immer neue Aufgaben und soziale Nischen zu finden, führte dazu, dass er sich nicht in lähmende und destruktive Konkurrenz-Situationen verhedderte, sondern stetig wachsen konnte.

Der richtige Optimismus

In der berühmten Nonnen-Studie [17] wurden Autobiographien untersucht, die Nonnen im Alter von 20‒25 Jahren verfasst hatten. Nach einer Studiendauer von über 60 Jahren wurde klar: Je mehr positive, sinnstiftende Gefühle die Autobiographie enthielt, desto länger lebte die Nonne. Diesen Befund, der auch mit der modernen Stressforschung übereinstimmt, finden wir auch in Platters Biographie: Menschen, die trotz Belastung, Stress oder Trauma positive Gefühle erleben, überstehen schwierige Situationen besser als solche, die nur negative Gefühle wälzen. Positive Gefühle sind zum Teil vererbt, sie lassen sich aber auch trainieren, indem man sich bewusst an positive Dinge erinnert und sich mit positiven Dingen auseinandersetzt. Platter hat mit seiner Biographie eine traumatische Geschichte in einen bleibenden positiven Wert verwandelt.

Die richtige Anspannung

Die beiden vegetativen Nervensysteme, Sympathikus und Parasympathikus, sollen möglichst in Balance gehalten werden [18]: Anspannung hat zwar biologisch den Vortritt gegenüber der Entspannung, aber gesunder Schlaf, Ernährung und Entspannung sind für Resilienz und langfristiges Wohlbefinden entscheidend. Thomas Platter war auf seinen Wanderschaften sehr oft den Stressoren von Durst und Hunger und körperlicher Gewalt ausgesetzt, konnte dies aber offenbar in den späteren Jahren seiner geistigen Tätigkeiten soweit in sein Weltbild einbauen, dass er nicht mehr darunter litt, obwohl er ich daran erinnerte. Vielleicht hatte er auch bestimmte Techniken, seinen Vagus-Nerv zu aktivieren, z.B. Atemübungen, die uns leider nicht überliefert sind.

Die richtige Belohnung

Belohnungen bieten einen wichtigen Schutz vor Stressfolgeschäden. Platter hatte in seiner Zürcher und ersten Basler Zeit das Seilerhandwerk gelernt, konnte sich dadurch Geld beschaffen, mit Kollegen die Druckerei kaufen und mit den dort erzielten Gewinnen und der Anstellung als Lehrer und Rektor am Gymnasium sich Häuser in der Basler Altstadt und später sogar das Gundeldinger Schlösschen kaufen [9]. Das Hirnbelohnungssystem im Gehirn ist der Gegenspieler des Stresssystems. Deshalb ist es wichtig, Belastungen mit Belohnungen zu kombinieren: kurzfristige Belohnungen haben geringere Resilienzwirkungen und auch ein Suchtpotential. Schulabschlüsse (Platter in Schlettstadt, später Lateinisch, Griechisch, Hebräisch in Zürich), berufliche Meilensteine (Seilerhandwerk), Visionen (Gymnasiumreform in Basel), Freundschaften (Myconius, Zwingli) und Paarbeziehungen (Anna Dietschin, Hester Gross) gehören zu den langfristigen Belohnungen, welche die Resilienz stärken. Plattner schien aber nie von solchen Belohnungen abhängig zu sein. Seine Flexibilität zeugt davon, dass er reich an intrinsischen Belohnungen wie persönlicher Erfüllung, innerer Unabhängigkeit und moralisch hochstehenden Leistungen war, die ihn bei äusserlichen Schwierigkeiten innerlich unabhängig machten.

Die richtige Zeit

Östliche Weise predigen es seit Jahrtausenden: Im einzelnen Augenblick gibt es keine Probleme. Stress entsteht erst durch die Nicht-Gegenwärtigkeit und das Abdriften in die Vergangenheit und in die Zukunft. Der Zustand, in dem wir ganz im Augenblick aufgelöst sind, wird Flow genannt. Platters Biographie zeugt davon, dass er im Augenblick aufgehen konnte. Zum Beispiel beobachtete er in einem sehr belastenden Moment, wie der Wind sein Gewändlein hinten aufwehte. Statt sich eine Katastrophe auszumalen, beobachtete er den Wind. Das Schreiben und Lesen von Büchern gehören zu den wichtigen Flow-Erfahrungen in der modernen Welt. Über-, aber auch Unterforderung stören den Flow. Platter war oft unterfordert und hat sich immer wieder neue Herausforderungen gesucht, um immer wieder neu in den Flow zu kommen.

Die richtige Identität

Die Identität eines Menschen ist nicht einfach von aussen gegeben, sondern das Resultat von psychosozialen Prozessen wie Selbsterkenntnis, Selbstgestaltung, Identifizierung und sozialer Integration. Arbeit und Beruf, Familie, Religionen, soziale Rollen sind wichtige Bereiche der Identifikation. Zu Platters Zeiten hatten, vielleicht mehr als heute, auch Weltanschauungen und Ideologien die Kraft, Identitäten zu stiften. Wir haben recht viel Freiraum, unsere Identität zu gestalten. Sie hilft, uns selber und unsere Interaktionen mit der Umwelt zu verstehen. Sie hilft auch, Erfahrungen Bedeutung zu geben. Identität hat eine wichtige soziale Funktion. Wir betrachten die Leistungen von Menschen, die mit unserer Identität zu tun haben, als positiv und eher nicht als Konkurrenz. Entsprechend können Gruppenidentitäten ermöglichen, Konkurrenz in Kooperation zu verwandeln. Die Identifikation mit Visionen und Langzeitperspektiven macht besonders resilient. «I have a dream» predigte Martin Luther King, und Nietzsche wusste: «Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.»

Das richtige Selbst

Das Selbst ist der Angelpunkt der Resilienz. Lange galt ein grosser Selbstbezug als moralisch verwerflich, aber die moderne Resilienzforschung belegt, dass die intensive Beschäftigung mit dem Selbst zu Resilienz führt. Platters Lebensbeschreibung ist eine ideale Illustration dafür, auch wenn diesbezüglich kritische Stimmen nicht ausgeblieben sind [19]. Er hatte reichlich Gelegenheit für «Selbst-Wirksamkeitserfahrungen», die als wirksamste Methode der Selbst-Fitness gelten [13]: Erfahrungen, bei denen man aufgrund eigener Aktivität und Kompetenz eine positive Veränderung der Umwelt selbst in schwierigen Situationen bewirken kann. Sie führen zu hohen Selbst-Wirksamkeitserwartungen, die uns helfen, in schwierigen Situationen an unsere Fähigkeiten zu glauben und nicht aufzugeben. Neben eigenen Erfolgserlebnissen können auch stellvertretende Selbst-Wirksamkeitserfahrungen zur Resilienz beitragen. Es ist deshalb wichtig, selbstwirksame Vorbilder auszuwählen ‒ für Platter waren es etwa Myconius, Zwingli und bezüglich Hartnäckigkeit vielleicht auch Calvin.

Selbstverantwortung und Körperpflege

Er hatte auch reichlich Praxis mit einem anderen wichtigen Konzept für Resilienz, der Selbstverantwortung: Genügend Krisen, in denen er sich um sich selbst sorgen musste, boten Gelegenheiten, seine Leistungsgrenzen kennen zu lernen und aktiv die Opferrolle zu verlassen.

Für den letzten von Gregor Hasler empfohlenen Resilienzfaktor, «die richtige Körperpflege», den er in seinem neuen Buch über die «Darm-Hirn-Connection» [18] ausführlich und kenntnisreich als «wichtigste Wachstumszone der Stressforschung» beschreibt, finden wir in Thomas Platters Lebensbeschreibung verständlicherweise keine Hinweise.

Disclosure statement

No financial support and no other potential conflict of interest relevant to this article was reported.

Correspondence

Correspondence, Prof Dr. med. Jürg Kesselring FRCP, Senior Botschafter und Neuroexperte, Rehabilitationszentrum Kliniken Valens, Taminaplatz 1, CH–7317 Valens, juerg.kesselring[at]kliniken-valens.ch

Literatur

Weitere Literatur

1 Gesellschaft auf der Chorherrenstube. Neujahrsblatt an die lernbegierige Zürcherische Jugend auf das Neujahr 1812: Thomas Platter. 34. Neujahrsblatt. Zürich: Gesellschaft auf der Chorherrenstube; 1812.

2 Müller P. Ein „schuolmeister“ erzählt seine Lebensgeschichte. Thomas Platters Autobiographie – neu gelesen. Basl Z Gesch Altertumskd. 1995;95:43–55.

3 Hartmann A, ed. Thomas Platter. Lebensbeschreibung. Basel: Schwabe; 1999.

4 Le Roy Laudrie E. Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und der Reformation. Stuttgart: Klett-Cotta; 1998.

5 Platter Thomas. Lebensbeschreibung. Hrsg. von Alfred Hartmann. 3. Auflage. Basel 2006.

6 Ziep F. Erzählen ohne Ende. Lebensgeschichten im 16. Jahrhundert am Beispiel der autobiographischen Texte von Ludwig von Diesbach (1488/1518) und Thomas Platter (1572). In: Ulbrich C, Medick H, Schaser A, Hrsg. Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag; 2012. S. 105–121.

7 Platter Felix. Tagebuch. Lebensbeschreibung 1536-1567. Im Auftrag der Hist. und Antiq. Gesellschaft zu Basel herausgegeben von Valentin Lötscher. Basel: Schwabe, 1976.

8 Pastenaci S. Platter, Thomas (der Ältere). In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 20, Berlin: Duncker & Humblot; 2001. S. 517 f.

9 Grand J. Thomas Platter – eine Integrationsfigur? In: Basler Stadtbuch 1999, S. 251–254.

10 Simon-Muscheid K. Indispensable et caché. Le travail quotidien des enfants au bas moyen-âge et à la Renaissance. Medievales. 1996;30(30):97–107. doi:. http://dx.doi.org/10.3406/medi.1996.1355

11 Frenken R. Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17. Jahrhundert: Psychohistorische Rekonstruktionen (= Psychohistorische Forschungen. Band 1/1 u. 1/2). Kiel: Oetker-Voges; 1999. S. 388–414.

12 Maissen T. Thomas Platter. „Wie ist es möglich, das ich noch läb?“ Zum 500. Geburtstag von Thomas Platter. In: Basler Stadtbuch 1999, S. 247–250.

13 Hasler G. Resilienz. Der Wir-Faktor. Stuttgart: Schattauer; 2017.

14 Walden B. Kindheit und Jugend, Erziehung und Bildung im 16. Jahrhundert am Beispiel von Thomas Platter und Bartholomäus Sastrow. Wien 1993.

15 Werner E. Overcoming the Odds: High Risk Children from Birth to Adulthood. Ithaca, New York: Cornell University Press; 1992.

16 Holt-Lunstad J, Smith TB, Layton JB. Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review. PLoS Med. 2010;7(7):e1000316. doi:. http://dx.doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316 PubMed

17 Danner DD, Snowdon DA, Friesen WV. Positive emotions in early life and longevity: findings from the nun study. J Pers Soc Psychol. 2001;80(5):804–13. doi:. http://dx.doi.org/10.1037/0022-3514.80.5.804 PubMed

18 Hasler G. Die Darm-Hirn Connection. Stuttgart: Schattauer; 2019.

19 Bellwald W. "...so vill ich han mögen in der lengen zyt ingedenk sin..." zu Thomas Platter und seinem 500. Geburtstag 1999. in: Blätter aus der Walliser Geschichte. Bd. 31. Brig 1999. S. 169-193.

‒ Baechtold J. Platter, Thomas. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 26. Leipzig: Duncker & Humblot; 1888. S. 265–267.

‒ Meyer W, von Greyerz K, eds. Platteriana. Beiträge zum 500. Geburtstag des Thomas Platter (1499–1582). Basel: Schwabe; 2002.

‒ Southwick SM, Charney DS. Resilience. The Science of Mastering Life’s Greatest Challenges. Cambridge: Cambridge University Press; 2018.

‒ Wenneker E. Thomas Platter der Ältere. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Band 7. Herzberg: Bautz; 1994. S. 730–732.

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