Book review
Remschmidt Helmut, Becker Katja (Herausgeber): Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2019.
7. Auflage.
568 Seiten.
Preis: Euro 99,99.
ISBN: 978-3-13-241122-7.


Das Lehrbuch ist nachvollziehbar strukturiert in die Teile «Entwicklung», «Diagnostik», «Störungsbilder», «Therapie» und «Begutachtung».
Im ersten Teil, «Entwicklung», werden kurz die wesentlichen Aspekte der körperlichen und psychischen Entwicklung skizziert. Darauf folgen Abschnitte über die Entwicklungspsychopathologie sowie Modellvorstellungen zu Ätiologie und Genese von psychischen Störungen.
Im zweiten Teil über Diagnostik finden sich Abschnitte zur allgemeinen körperlichen wie auch zur speziellen neurologischen Untersuchung. Anamneseerhebung, Erhebung des psychischen Befundes, Klassifikation und Beschreibung des diagnostischen Prozesses gehen auf die verschiedenen Bausteine der Diagnostik ein, zu der auch Testdiagnostik sowie apparative und labormässige Untersuchungen gehören.
Die Inhalte dieser ersten zwei Teile sind gut aufbereitet, übersichtlich, klar und informativ. Sie sind, naturgemäss eher propädeutisch, geeignet für Berufseinsteiger im Felde der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Das Herzstück des Lehrbuches sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht stellt der dritte Teil über psychische Störungen und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen dar. Unter diesem Übertitel werden einerseits die klassischen Störungsbilder wie Angststörung, Zwangsstörungen, Autismus, Affektive Störungen und ADHD behandelt. Darüber hinaus wird auch auf die Entwicklungsstörungen (Lese-Rechtschreibstörung, Rechenstörung, Motorische Störung) eingegangen, die im multiaxialen Klassifikationssystem ja nicht auf der ersten, sondern auf der zweiten Achse erfasst werden. Schliesslich finden sich in diesem Kapitel auch Problemstellungen, die mit verschiedenen Störungen verbunden sein können, wie Schulabsentismus, Suizidalität, nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten, die verschiedenen Misshandlungsformen und psychische Störungen bei chronischen körperlichen Erkrankungen und Behinderungen. Alle diese Unterkapitel sind von ausgewiesenen Spezialistinnen verfasst, die in der Lage sind, neben klinischem Basiswissen auch die wesentlichen Resultate der einschlägigen Forschung verständlich aufzubereiten.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit Therapie, Rehabilitation und Prävention. In diesem Teil sind die Kapitel über Psychotherapie und Elterntraining besonders hervorzuheben. Diese beiden Kapitel sind nicht nur für sich sehr informativ, sondern ausgesprochen komplementär zum vorherigen Kapitel mit den verschiedenen Störungsbildern, in dem ja auch auf die jeweils spezifischen Aspekte der Psychotherapie und der Elternarbeit eingegangen wird. In diesen beiden Kapiteln wird nochmals hervorgehoben und verständlich gemacht, was in dem vorangegangenen, störungsspezifischen Kapitel bereits angesprochen wurde: Die Therapie bei psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen muss störungsspezifisch, altersspezifisch und kontextspezifisch erfolgen. Leider trifft diese Komplementarität nicht auf die medikamentöse Behandlung zu. Die Pharmakotherapie wird nach nicht verständlichen Kriterien im störungsspezifischen Kapitel entweder nicht erwähnt, teilweise erwähnt oder ausführlicher dargestellt. Im Kapitel über die medikamentöse Therapie kommen die Grundlagen der pharmakologischen Behandlung, für die keine ganze Seite eingesetzt wird, eindeutig zu kurz. Es wird in diesem Kapitel auf einige, aber nicht auf alle Störungsbilder, die im dritten Teil erwähnt wurden, eingegangen.
Der letzte Teil, die gesetzlichen Grundlagen, Begutachtung und gerichtliche Kinder- und Jugendpsychiatrie, bezieht sich ausschliesslich auf Deutschland. Dass der Rezensent, schweizerisch-österreichischer Doppelbürger, dies doppelt bedauert, dürfte einleuchten.
Der Rezensent hat das gesamte Lehrbuch von vorne bis hinten durchgelesen, nicht nur Corona-bedingt, sondern weil das Buch wirklich interessant und informativ geschrieben ist. Das Lehrbuch ist umfassend und geht auf alle wesentlichen Aspekte des Faches ein. Als Leser/-in bekommt man bei jedem Kapitel den Eindruck, dass das Wichtigste vermittelt wurde, die Proportionen zwischen den verschiedenen Kapiteln stimmen. Natürlich gibt es einige Aspekte, die zu kurz kommen oder fehlen. Das Wort „Milieutherapie“ erscheint nicht einmal im Stichwortverzeichnis. Assistenzärztinnen und Psychologinnen, die ihre Ausbildung im stationären Rahmen absolvieren, sollten darüber im Kapitel über kombinierte Behandlung etwas erfahren. Störungsübergreifende Funktionsstörungen wie etwa die Emotionskontrolle, die Impulskontrolle oder Selbstwertregulation, wie sie mittlerweile in Lehrbüchern für Psychotherapie mit Erwachsenen als separate Kapitel zu finden sind, fehlen. Das Lehrbuch hat also für eine 8. Auflage sicherlich noch Potential.
Die Assistenzärztinnen und -ärzte sowie und Psycholog(inn)en in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden als möglicher Leserkreis schon angesprochen. Das Buch ist darüber hinaus sicherlich auch geeignet als gute Unterstützung für Kolleg(inn)en aus den angrenzenden Fachgebieten, wie der Pädiatrie, der Psychiatrie für Erwachsene oder für Hausärztinnen. Wer das Buch kauft, kann es zudem auch jederzeit auf der Online-Plattform des Thieme Verlags in elektronischer Form einsehen.
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