Interview

Wo steht die Schweizer Sozialpsychiatrie heute?

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2020.03113
Publication Date: 01.06.2020
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2020;171:w03113

Ihde Thomas, Studer Karl

Karl Studer: Wo steht die Sozialpsychiatrie in der Schweiz heute, nach 40 Jahren Ausbau aller psychiatrischen Institutionen ?

Thomas Ihde: Mein Eindruck ist ein sehr gemischter. Es gibt hochinnovative, sehr personenzentrierte Angebote, aber es gibt auch etwas karge Landschaften. Im Bereich der «Peers» hat die Schweiz beispielsweise innerhalb von zehn Jahren viele Länder links überholt. Eklatant sind im Bereich der Sozialpsychiatrie vor allem die regionalen Unterschiede. Wir gehören zudem zu den Ländern, die weltweit fast am meisten für den Bereich psychische Gesundheit ausgeben, diese Gelder fliessen aber vor allem in den stationären Bereich, in die Einzelpsychotherapie und in medikamentöse Behandlungen. Und die sozialpsychiatrische Forschung ist sicher ausbaubar, um es sehr schweizerisch zu formulieren. Am Beratungstelefon der Pro Mente Sana, da tönt es weniger schweizerisch. Betroffene und Angehörige kritisieren uns hier klar, wünschen sich eine personenzentriertere, flexiblere Behandlung mit mehr Netzwerk-Miteinbezug.

KS: Die Sanitätsdirektoren der Schweiz haben vor ca. 15 Jahren Richtlinien für die psychiatrische Versorgung herausgegeben. Sie unterstützten einen massiven Ausbau der ambulanten Psychiatrie auf Kosten der stationären mit der Leitlinie «ambulant vor stationär». Warum wurden diese Richtlinien praktisch nirgendwo umgesetzt? Es werden im Gegenteil fast überall die Kliniken kräftig ausgebaut mit immer neuen Angeboten.

TI: Als Grund wird immer wieder das Geld genannt. Und es stimmt natürlich, alle sprechen von «ambulant vor stationär», und alle finanzieren stationär vor ambulant. Einzelne Kantone haben Mindestfallzahlen eingeführt, was den stationären Ausbau zusätzlich fördert. Es liegt aber nicht nur am Geld. Es ist eine Kopfsache, eine Frage des Modells. Ist die Klinik Dienstleister für ein ambulantes Netz oder ist sie eben das Zentrum des Angebots? Dies entscheidet, wo die Ressourcen und die Innovationskraft hinfliessen. Dabei ist doch der Auftrag an uns recht klar. Betroffene möchten in ihrem häuslichen Umfeld niederschwellig und schnell in der Krise unterstützt werden. Der Arbeitsplatzerhalt steht für sie meist fast an erster Stelle. Sie möchten aber auch wählen können, sie wollen keine Dogmatismen, keine «Strukturen». Manchmal ist ein enger Miteinbezug der Familie gewünscht, manchmal nicht. Manchmal wird eine Behandlung zu Hause gewünscht, manchmal nicht. Manchmal wird eine wohnortnahe Hospitalisation gewünscht, manchmal eine wohnortferne.

KS: Welche Bedeutung hat die regionale Integration der Psychiatrie in die regionalen medizinischen Versorgungsstrukturen? Kann hier das spezifische Fachwissen über die bio-psycho-sozialen Kompetenz patientengerecht umgesetzt werden?

TI: Im Berner Oberland arbeiten wir unter dem Dach einer grösseren Spitalgruppe. Initial gab es zwischen der Orthopädie und der Rheumatologie einfach auch die Psychiatrie. Das Kräfteverhältnis war aber schwierig. Wir waren das kleine Estland, das immer von Deutschland und Frankreich überstimmt wurde. Heute ist die Psychiatrie ein eigenständiger Bereich innerhalb der Spitalgruppe. Das löst nun paradoxerweise viel Neid bei den medizinischen Disziplinen aus. Dieses System erachte ich aber als ideal. Die Bevölkerung schätzt es sehr, dass sie auch für psychische Krankheiten einfach in ihr Spital gehen kann. Diese einfache Tatsache wirkt stark entstigmatisierend. Das gemeinsame Dach der verschiedenen Disziplinen ist aber auch sehr innovationsbegünstigend. Wir haben beispielsweise eine Elternberaterin für junge Familien mit einem erkrankten Elternteil. Sie ist auf der Visite der Geburtenabteilungen mit dabei, hat mit den Hebammen die Stärkung von Eltern-Kind-Bindung ins Zentrum gerückt. Solche Projekte sind bei uns recht einfach umsetzbar.

KS: Wir haben doch einen spannenden Beruf! Und doch ergreifen immer weniger Mediziner die Ausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten. Wie könnte Deiner Meinung nach der medizinische Nachwuchs wieder dafür begeistert werden?

TI: Ich finde ihn einen der spannendsten und vielseitigsten Berufe und würde ihn sofort wieder wählen. Ich denke, die Gründe sind komplex. Viele Studentinnen, die früher Medizin studiert und Psychiatrie gewählt hätten, sehe ich heute, wenn ich bei den Psychologie-Studierenden doziere. Stigmatisierung durch unsere medizinischen Kollegen ist unverändert ein grosser Faktor und ich denke hier muss man ansetzen: Wir brauchen eine Antistigma-Kampagne für unsere Patient(inn)en und eben auch für uns mit den Zielgruppen Fachärzt(inn)en, Medizinstudent(inn)en und der Allgemeinheit. Schliesslich fände ich diese Frage auch ein gutes Forschungsthema. Wir rätseln ja alle, was es alles sein könnte.

KS: Inwiefern können andere Berufsgruppen wie Psycholog(inn)en, Pflegedienstmitarbeitende, Sozialarbeiter/innen und andere Therapeut(inn)en diese Aufgaben übernehmen nach einer entsprechend qualifizierten Ausbildung?

TI: Ich war überrascht, als ich 2004 in die Schweiz kam, wie ärztelastig unsere Versorgung war und es immer noch ist . Ich verstehe diese Verteidigungshaltung rund um Kompetenzen nicht. Sie wirkt für mich sehr macht- und geldzentriert. Betroffene und deren Angehörige wollen ein kompetentes Gegenüber und wollen als Menschen gesehen werden. Die Berufsgruppe ist für viele sekundär. Und auch volkswirtschaftlich macht es doch keinen Sinn, die teuerste Berufsgruppe Aufgaben wahrnehmen zu lassen, die andere vielleicht (fast) genauso gut können. Kritik habe ich hier aber auch in Richtung der Psycholog(inn)en: Unsere Bevölkerung braucht mehr bio-psycho-soziale Psycholog(inn)en, nicht mehr eidgenössisch anerkannte Psychotherapeut(inn)en. Aber vielleicht unterschätze ich als Provinzpsychiater die psychotherapeutische Unterversorgung des Zürcher Seefelds. Wir müssen diese Fachgruppen gezielt ausbilden und befähigen. Nur so können wir die psychiatrische Versorgung längerfristig gewährleisten.

KS: Wohin sollte Deiner Meinung nach die weitere Entwicklung der Psychiatrie gehen?

TI: Auch im Jahr 2020 geht es immer noch um eine Stärkung der intermediären Psychiatrie und in vielen Kantonen auch um eine Klärung von deren Finanzierung. Krisenorientierte, zuhause aufsuchende Angebote sollten in jedem Kanton verfügbar sein. Dann erhoffe ich mir in den nächsten zehn Jahren schon noch einen Quantensprung. Unsere Behandlungen haben in den letzten zehn Jahren recht stagniert, die Forschung müsste wieder breiter werden. Ich bin nicht gegen die Biologie, aber gegen deren Ausschliesslichkeit. Das Thema Schizophrenie brennt mir persönlich unter den Nägeln. Es ist eine Erkrankung bei der alle recht hilflos sind und bei der ich einen riesigen Spagat erlebe, je nachdem ob ich mit ärztlichen Kollegen, Betroffenen oder Angehörigen spreche. Und Stigma ist natürlich immer noch eines unserer Hauptthemen. Auch im Jahr 2020 in der Schweiz.

KS: Welche Aufgabe hat heute die Pro Mente Sana ?

TI: Die Pro Mente Sana versteht sich heute als trialogische Stiftung, vertritt also die Interessen von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. Sie hat zwei klare Schwerpunkte. Einerseits geht es um Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, mit Themen wie Selbstbestimmung, Sozialversicherungen, Behandlung und Stigma. In diesen Bereich fallen Angebote wie «Recovery», «Peers», «Open Dialogue», der Trialog, Patientenverfügungen, der Vertrauenspersonen-Pool und natürlich die Rechts- und psychosozialen Beratungen, die heute auch online sind. Daneben vertritt sie seit den letzten sieben Jahren vermehrt auch die Interessen aller Menschen mit einer psychischen Erkrankung, (z.B. die berufstätige Mutter mit einer Bulimie) und den Bereich Prävention. Darunter fallen Angebote wie die «Wie geht’s Dir?»-Kampagne ebenso wie die Ensa-Kurse, also Erste-Hilfe-Kurse zum Thema psychische Gesundheit. Sehr ins Zentrum gerückt ist die Arbeitswelt mit «mental health@work».

KS: Was wolltest Du den Lesern des «Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy» schon lange einmal sagen?

TI: Nun, ich habe eine beherzte Bitte: Die Pro Mente Sana ist eine kleine Stiftung mit wenig Geld und grossem Auftrag. Stigma erschwert auch hier klar das Fundraising. Es würde mich sehr freuen, wenn möglichst alle Leser(inn)en Mitglied des Mental Help Clubs werden (www.mentalhelpclub.ch).

Correspondence

Dr. med. Karl Studer, Praxis im Klosterhof, Klosterhofstrasse 1, CH-8280 Kreuzlingen, karl.studer[at]bluemail.ch

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