
Editorial
Das C-Wort und die Jugend
Fast hätte es funktioniert, fast wäre kein einziges Mal das C-Wort gefallen und das Heft wäre erfrischend «normal» geworden. Die beunruhigenden Nachrichten aus der Welt wären für einmal an uns vorbeigezogen und wir hätten uns unserer Fachliteratur widmen können, als wäre nichts geschehen. Doch der tragische Umstand, dass unsere langjährige und hoch geschätzte Redaktorin des SANP, Dora Knauer, an diesem Virus verstorben ist, rückt es erneut in ein abscheulich grelles Licht und lässt uns einmal mehr nicht zur Normalität zurückkehren.
Ich masse mir nicht an, mit den unzähligen Plädoyers, Artikeln und Recherchen von renommierten Journalisten, Philosophen und Wissenschaftlern mithalten zu können, und verzichte daher auf eine weitere geistreiche Abhandlung über die «Corona-Krise». Viel wichtiger erscheint mir, diesen traurigen Anlass zu nutzen, um die psychische Gesundheit mehr denn je in den Fokus zu rücken. Diese Krise stellt uns persönlich wie auch fachlich vor ein Absurdum: Als Arzt, insbesondere als Psychiater, haben wir verinnerlicht, wie vernichtend sozialer Rückzug sein kann, und haben es uns zum höchsten Gebot gemacht, Sozialkontakte und Nähe zu fördern. Nun zwingt uns eine Erkrankung zwei Schritte zurück zu treten und diese Grundprinzipien für eine gewisse Zeit als sekundär zu betrachten.
Wird es der Psychiatrie helfen, einen frischen Standpunkt in der Öffentlichkeit einzunehmen oder werden wir unbemerkt in unseren Praxen und Kliniken an den Auswirkungen dieser sozialen Veränderung grübeln? Und gerade, als sich ein Gefühl der Machtlosigkeit und Ärger über diese so einschränkenden − und oftmals unserer Therapie abträglichen − Auflagen regt, belehrt uns unsere liebe Kollegin eines Besseren. Bald sind die Einschränkungen des sozialen Lebens, die Distanz und der Verzicht vorbei, irgendwann sind der Schock über die plötzliche Einsamkeit und Desorientierung vergessen, doch die Verluste dieser Zeit sind fortdauernd.
Dora Knauer widmete ihr Leben der psychischen Gesundheit der Kinder von Geburt an. Ihre lebenslangen Bemühungen galten den Säuglingen und (Klein-) Kindern. Sicherlich hätte sie ihre Freude an dieser Ausgabe des SANP gehabt, sind doch darin zahlreiche Beiträge zu Themen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie versammelt.
«In memoriam» oder «in Erinnerung behalten» heisst es ganz zu Beginn, denn wir möchten Dora Knauer und ihrer Arbeit noch einmal auf den Grund gehen: Daniele Zullino verabschiedet sich im Namen der Redaktion des SANP von deren treuen und sehr geschätzten Kollegin und Autorin. Durch die Worte und Erinnerungen ihrer Freunde und Wegbegleiter, können wir von ihr Abschied nehmen und uns gleichzeitig von ihrer Faszination für dieses Fachgebiet anstecken lassen.
Dann aber können wir für den restlichen Teil des Heftes das C-Wort hinter uns lassen und beschäftigen uns dennoch mit aufreibenden und kontroversen Fragen. Aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie finden sich drei Reviewartikel: Über Persönlichkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter von M. Birkhölzer et al., zur Begleitung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz von D. Pauli, und der Gen-Umwelt-Interaktion, die sich besonders gut am Beispiel des AD(H)S im vulnerablen Pubertätsalter aufzeigen lässt (von U. Davatz). Wir lesen des Weiteren in der entsprechenden Analyse von D. Zullino über einen Film, in dem besondere Kinder eine Rolle spielen (auch im direkten Sinne des Wortes), und machen einen Ausflug zu einem bemerkenswerten Verdingkind der Renaissance, das mit erstaunlicher Resilienz ausgestattet war. Neben einem weiteren Beitrag in der Serie «Case Report und Quiz» dürfen wir nicht zuletzt einen raren und aussergewöhnlichen Einblick in die wechselvolle Welt der bipolaren Störung aus erster Hand gewinnen und fragen uns mit dem Interviewpartner von K. Studer, Dr. med. Thomas Ihde, in welche Richtung sich die psychiatrische Forschung entwickeln sollte.
Und für einen Moment konnten wir das C-Wort dann doch vergessen.
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