Case report
Zur forensisch-psychiatrischen Relevanz des Asperger-Syndroms
Summary
On the forensic-psychiatric relevance of Asperger’s syndrome
Based on the case of a violent offender with Asperger's syndrome, the typical issues in criminal forensic psychiatric assessment and the diagnostic challenges in the context of autistic disorders, especially with regard to the differentiation from personality disorders, are presented. The case study makes it clear that the disorder can contribute to acts of violence if early diagnosis and appropriate developmental support are not provided. Adequate support for those affected is of crucial importance (also in terms of criminal prognosis).
Kasuistik
Dem 26-jährigen, erstmals inhaftierten Herrn M.1 wurde vorgeworfen, Herrn F., bei dem er zur Untermiete wohnte, mit einem Hammer angegriffen zu haben. Er habe in Richtung von dessen Kopf geschlagen, der Hieb sei jedoch in die Wand gegangen. Herr M. wurde anschliessend ohne grössere Gegenwehr von dem in der Wohnung befindlichen Herrn G. überwältigt. Bei den Einvernahmen erkannte er die Tatvorwürfe an: Er sei extrem wütend gewesen, weil Herr F. auf dem Balkon Gegenstände verschoben habe. Herr M. bat darum, in Haft genommen zu werden und sprach davon, dass er verwahrt werden müsse, da er eine Gefahr für Andere sei. Bei den gutachterlichen Untersuchungen gab er an, durch die Haftsituation entlastet zu sein. Er schätze die dort klar geregelten Abläufe und die Rückzugsmöglichkeiten.
Die Biographie von Herrn M. zeigte diverse Auffälligkeiten: Er wurde durchgängig als sehr zurückhaltend und einzelgängerisch beschrieben. Es bestand eine Vorgeschichte mit einer Heimplatzierung im Kindes-/Jugendalter wegen Verhaltensauffälligkeiten, die als Ausdruck einer Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung eingeordnet worden waren. Im Alter von 16 Jahren kam es zu einer Strafuntersuchung bei der Jugendanwaltschaft, da er in der Schule einen Amoklauf angekündigt und einen Mitschüler mit einem Messer bedroht habe. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde kein Gutachten eingeholt und lediglich ein Selbstsicherheitstraining angeordnet, das Herr M. erfolgreich absolviert habe. Er konnte eine Lehre in einer Bäckerei abschliessen, fand danach jedoch nicht zu einer geregelten beruflichen Tätigkeit, sondern nur zu jeweils kurzzeitigen, unterschiedlichen Aushilfstätigkeiten.
Bis ein Jahr vor dem Delikt lebte Herr M. bei seiner Mutter, wobei das Zusammenleben als für beide Seiten belastend beschrieben wurde. Nach einem heftigen Streit, bei dem Herr M. verbal aggressiv in Erscheinung trat, erfolgte beim damals 25-Jährigen die erste stationäre psychiatrische Behandlung. Es wurde die Diagnose einer depressiven Episode gestellt und eine schizoide Persönlichkeitsstörung in Betracht gezogen. Herr M. kehrte nach der Behandlung nicht zur Mutter zurück, sondern mietete sich bei Herrn F. ein.
Bei den Untersuchungen durch den Autor und die Autorin dieses Beitrags beschrieb sich Herr M. als Aussenseiter: Er habe zeitlebens keine Kontakte gesucht bzw. diese sogar gemieden. Nähe sei für ihn schwierig, er habe Schwierigkeiten, soziale Interaktionen adäquat und insbesondere spontan einzuordnen. Eine Vielzahl von Reizen irritiere ihn und führe dazu, dass er sich mit Kopfhörern, Sonnenbrille oder Rückzug in eine vertraute Umgebung abschirmen müsse.
Diagnostische Überlegungen
Herr M. beschrieb schwer zu kontrollierende Unruhe, Anspannung und Verunsicherung bis zur Überforderung in sozialen Interaktionen, die für ihn besonders herausfordernd seien, wenn Kreativität oder Spontanität gefragt sei. Deshalb vermeide er soziale Kontakte und Aktivitäten. Vor diesem Hintergrund drängte sich die Frage einer Persönlichkeitsstörung auf, denn es bestanden seit Kindheit und Jugend Erfahrungs- und Verhaltensmuster, die deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben abwichen und sich in mehr als einem der folgenden Bereiche äusserten: Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und die Art des Umgangs mit anderen Menschen sowie die Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Abweichung war so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst sowie unzweckmässig war und es bestand ein persönlicher Leidensdruck. Somit waren wesentliche Allgemeinkriterien einer Persönlichkeitsstörung nach der ICD-10 erfüllt.
Hinsichtlich spezifischer Persönlichkeitsstörungen ergaben sich Anhaltspunkte für das Vorliegen einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, denn es bestand ein Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten und ein einzelgängerisches Verhalten. Herr M. zeigte ein begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben. Seit seiner Kindheit und Jugend wirkte er als emotional kühl und affektarm. Er zeigte eine Gleichgültigkeit gegenüber Lob oder Kritik, eine Bevorzugung von Aktivitäten, die alleine durchzuführen sind und wenig bis kein Interesse an sexuellen und partnerschaftlichen Erfahrungen.
Insofern war die in der Klinik geäusserte Verdachtsdiagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung nicht unplausibel. Dazu passt jedoch nicht, dass Herr M. seinen Kontaktmangel als Ausdruck einer fehlenden Fähigkeit bei gleichzeitigem Wunsch beschrieb, soziale Kontakte zu gestalten und Interaktionen adäquat einzuordnen. In Verbindung mit seinem restriktiven, repetitiven und unflexiblen Verhalten, sowie seiner Überempfindlichkeit gegenüber Aussenreizen, kommt eine andere psychiatrisch relevante Störung, nämlich das Asperger-Syndrom, in Betracht. Gemäss WHO handelt es sich dabei um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, deren Auffälligkeiten bereits im Kindesalter manifest werden. Auch wenn das Ausmass der sichtbaren Besonderheiten im Verhalten der Betroffenen in Abhängigkeit von Umgebungsanforderungen und Alter Veränderungen zeigen kann [1], handelt es sich um eine lebenslang bestehende Störung. Sind die schizoid anmutenden Auffälligkeiten Folge einer angeborenen tiefgreifenden Entwicklungsstörung, ist diese entwicklungs-perspektivisch höher zu gewichten und entsprechend keine schizoide Persönlichkeitsstörung, sondern ein Asperger-Syndrom zu diagnostizieren [2]. Die Diagnosekriterien der ICD-10 [3] für ein Asperger-Syndrom (F84.5) sind im Wesentlichen folgende drei:
A. Die beschriebenen Entwicklungsbesonderheiten betreffen nicht die allgemeine Sprach- und intellektuelle Entwicklung, die im wesentlichen normal verläuft.
B. Qualitative Besonderheiten im Sozialverhalten. Diese äussern sich erstens in einem Mangel an auf Gegenseitigkeit ausgerichteter Interaktion zum Teilen von Interessen, Aktivitäten und Emotionen, und zweitens in kommunikativen Auffälligkeiten wie unangemessener Mimik und Gestik zur Regulation der Interaktion sowie Schwierigkeiten im impliziten Verständnis von Sprache.
C. Repetitive Verhaltensweisen als Ausdruck eines eng begrenzten Interessens- und unflexiblen Verhaltensrepertoirs.
Letztere können auch als Ausdruck eines Regulationsversuchs bei sensorischer Überempfindlichkeit betrachtet werden, welche fast regelhaft mit dem Störungsbild einhergehen.
Biographie und Exploration zeigen, dass alle geforderten Kriterien erfüllt sind: Die Auffälligkeiten begannen im Kindesalter mit Schwierigkeiten, sich ausserhalb klar vorgegebener Regeln in die Interaktion mit Gleichaltrigen einzufügen und ihr Verhalten zu verstehen, bei normaler intellektueller Entwicklung. Noch heute fällt es ihm schwer, Botschaften zwischen den Zeilen zu erkennen und Intentionen anderer zu erahnen. Ihm sei schon immer klar gewesen, dass er sich darin von anderen unterscheide und er in irgendeiner Form behindert sei. Schon lange frage er sich, was der Grund dafür sei, aber leider habe ihm bisher keine Fachperson weiterhelfen können. Seine verbale Kommunikation ist äusserst präzise, was im auffälligen Gegensatz steht zur kaum verwendeten Mimik und Gestik. Kriterium C zeigt sich sehr deutlich u.a. in seinem lebenslangen Ordnungssinn, seinen Spezialinteressen (Mittelalter, Fantasy), seinem engen Bewegungsradius (möglichst fussläufig), sowie seiner sensorischen Abschirmung, um Überreizung und Ablenkung zu minimieren. Somit können die Auffälligkeiten gemäss ICD-10 als Asperger-Syndrom diagnostiziert werden. Die Überarbeitung der ICD-10 zu ICD-11 führt zu einer Veränderung der Nomenklatur, denn es wird nun der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung benutzt. Die diagnostischen Kriterien werden sich nur geringfügig ändern, so wird z.B. im ICD-11 explizit darauf hingewiesen, dass die Diagnose erst evident werden kann, wenn die Anforderungen die Coping-Strategien übersteigen, also auch im Erwachsenenalter [4]. Demnach kann im vorliegenden Fall auch gemäss ICD-11 die Diagnose einer autistischen Störung gestellt werden.
Für diese Störung ist keinesfalls untypisch, dass bei den stationären Behandlungen die Diagnose einer depressiven Episode gestellt wurde, da affektive Störungen bei etwa 50% der Patienten mit Asperger-Syndrom diagnostiziert werden [5]. Depressive Symptombilder sind darüber hinaus bei Asperger-Betroffenen oftmals mit einer Einengung auf autistische Sonderinteressen vergesellschaftet, bzw. mit einem vermehrten Beharren auf der Abwicklung typisch autistischer Tagesrituale und Routinen, vermehrten Stressreaktionen und dann auch fremd- oder autoaggressiven Verhaltensweisen, die einer extremen kognitiven Einengung auf jeweils aktuelle Konfliktthemen entsprechen. Sie als eigenständige Störung zu erfassen, ist weder zwingend noch sinnvoll, da die depressive Symptomatik vorwiegend die emotionale Reaktion Betroffener ist auf die durch die Asperger-Symptomatik resultierenden Leistungseinbussen bzw. Überforderung ist .
Forensisch Psychiatrische Beurteilung
Schuldfähigkeit
Nach Stellung der Diagnose hat die begutachtende Person gemäss Art. 19 StGB in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die festgestellte Störung die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung aufgehoben oder vermindert hat. Die Entscheidung, bis zu welchem Ausmaß diese Defizite die Schuldfähigkeit beeinflusst haben, fällt allerdings nicht in den psychiatrischen Kompetenzbereich. Sie kann nur juristisch-wertend getroffen werden, denn für die anzurechnende Schuld ist aus rechtlicher Sicht entscheidend, inwieweit Einsicht in das Unrecht einer Handlung erwartet und in welchem Umfang Selbststeuerung von einem Menschen verlangt werden kann [6, 7]. Dieser normative Anspruch lässt sich mit psychiatrischen/psychologischen Mitteln nicht bestimmen, denn es existieren keine Untersuchungs- bzw. Testmethoden, mit denen diese kognitiven oder voluntativen Eigenschaften objektiv und exakt vermessen werden könnten. Die sachverständige Person äussert sich daher nicht direkt zur Schuldfähigkeit, sondern dazu, ob es medizinisch fassbare Gründe dafür gibt, dass dem Täter die im Regelfall als gegeben vorausgesetzte Einsicht in die Problematik bzw. die Steuerung seines Verhaltens nicht mehr möglich oder erschwert war [8]. Auf dieser Basis nimmt das Gericht eine normative Bewertung vor, wobei eine Aufhebung des Einsichts- bzw. Steuerungsvermögens in der Regel zur Schuldunfähigkeit führt und forensisch relevante Einschränkungen zur verminderten Schuldfähigkeit, die als leicht, mittel oder schwer vermindert beurteilt werden kann.
Während die Einsichtsfähigkeit, verstanden als ein basales Wissen um soziale Normen, vorwiegend bei kognitiven Leistungseinbussen, Intelligenzminderungen oder Wahnsymptomen [9] gefährdet ist, können Einbussen der Steuerungsfähigkeiten bei einem deutlich breiteren Spektrum psychischer Störungen auftreten. Allerdings kann bereits eine leichte Schuldminderung nur bei Störungsbildern angenommen werden, die deutlich ausgeprägt sind [10].
Da Herr M. keine Intelligenzminderung aufwies und nicht unter psychotischen Symptomen litt, war die Einsichtsfähigkeit gegeben. Für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit war neben der Diagnose relevant, dass sich das Delikt in einer Lebensphase ereignete, die für Herrn M. wegen seiner Symptomatik enorm herausfordernd, wenn nicht sogar überfordernd war. Schliesslich war der damals 25-jährige Herr M. erstmals in seinem Leben gezwungen, sich ein eigenes Wohnumfeld zu organisieren. Zwar konnte im Rahmen der stationären Behandlung eine gewisse Beruhigung der Situation herbeigeführt werden. Diese blieb jedoch brüchig, da die autistische Störung nicht diagnostiziert wurde und keine spezifische Alltagsunterstützung vorhanden war.
Das Wohnen als Untermieter von Herrn F. wurde für Herrn M. zu einer weiteren Belastung, da er sozialen Interaktionen gegenüber ängstlich war bzw. in Überforderungen geriet, wenn Herr F. nicht in der von ihm erwarteten Art und Weise handelte. Im Verlauf registrierte Herr M. einerseits die Mühe, die er mit seinem Vermieter hatte, andererseits aber auch, dass er für Herrn F. zu einer Belastung wurde. Letztlich kam es zu einer ähnlich problematischen Situation, wie sie im Zusammenleben mit der Mutter vorgeherrscht hatte. Eine Alternative sah Herr M. nicht, vielmehr ging er davon aus, bei Verlust der Wohnung obdachlos zu werden.
Somit sah sich Herr M., dessen psychosoziale Leistungsfähigkeit durch das Asperger-Syndrom beeinträchtigt war, im unmittelbaren Vorfeld des Delikts mit einer besonders herausfordernden Lebenssituation konfrontiert, die durch eine ambivalente Interaktion mit dem Vermieter und ausgeprägte Zukunftsängste gekennzeichnet war. Infolgedessen befand er sich in einer unruhigen, von Zukunftsängsten geprägten Verfassung. Schon diese Konstellation war angesichts der eingeschränkten Regulationsfähigkeit von Herrn M. als schwerwiegend einzuordnen und damit geeignet, eine forensisch relevante Minderung der Steuerungskräfte zu begründen.
Am Tatmorgen selbst kam es zu weiteren Belastungen: Zunächst sah sich Herr M. überraschend damit konfrontiert, dass Herr F. nicht bei der Arbeit, sondern in der Wohnung war. Dadurch fehlte ihm zuerst sein gewohntes Zeitfenster, in dem er alleine in der Wohnung sein konnte, danach zudem die Möglichkeit, ungestört den Besuch der psychiatrischen Spitex zu empfangen. Dies führte zu einer unruhig-angespannten Überforderungssituation, in der er auf den Balkon ging, um dort einen Joint zu rauchen. Der Balkon wiederum wurde von ihm als eine Art Rückzugsort bezeichnet. Bei Betreten des Balkons fiel ihm auf, dass dort Mobiliar umgestellt worden war, was ihn aufgrund seiner Bindung an feste Ordnungen, Routinen und starre Abläufe massiv verärgerte bzw. dazu motivierte, sich bei Herrn F. zu beschweren. Dieser wies darauf hin, dass es sein Balkon und seine Möbel seien und dass er damit machen könne, was er wolle. Somit kam auch in der initialen Phase der konflikthaften Auseinandersetzung mit dem Vermieter die Asperger-Symptomatik nachteilig zum Tragen. Darüber konnte der Vermieter ohne ein Wissen um die störungsbedingten Hintergründe der eingeschränkten Flexibilität von Herrn M. nicht adäquat reagieren.
Dass man auf seine Wünsche bzw. Vorstellungen über die Ordnung von Möbelstücken auf dem Balkon nicht einging bzw. ihn in diesem Kontext sogar kritisierte, mache Herrn M. so wütend, dass er Herrn F. mit einem im Raum befindlichen und dadurch sofort greifbaren Hammer angriff. Seine wütende und aufgewühlte Verfassung wurde auch vom Opfer bestätigt. Er beschrieb, dass Herr M. ausser sich gewesen sei. Ähnlich äusserte sich der kurz zuvor eingetroffene Besucher Herr G. Der mit dem Hammer geführte Schlag ging jedoch knapp am Kopf des Geschädigten vorbei und traf die Wand. Herr M. gab dazu an, dass er bewusst am Kopf vorbeigeschlagen habe.
Deliktrelevant waren somit die störungsbedingt eingeschränkte Fähigkeit, soziale Situationen zu deuten und die daraus resultierenden kommunikativen Schwierigkeiten in der Interaktion mit dem Vermieter. In dem dadurch begründeten akuten Konflikt geriet Herr M. in eine derart aufgewühlt-wütende Verfassung, dass er kaum mehr in der Lage war, seine aggressiven Impulse zu hemmen. Insofern wurde von einer ausgeprägten Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ausgegangen, die aus psychiatrischer Sicht eine schwere Verminderung der Schuldfähigkeit rechtfertigen kann. Gegen leichtere Einbussen sprachen die Akuität und Unübersichtlichkeit des Konflikts mit einer am Tatmorgen bestehenden massiven Überforderung und insbesondere die (vermeintliche) Provokation durch Missachtung der für Herrn M. essentiellen Ordnungsprinzipien auf dem als Rückzugsort genutzten Balkon. Gegen eine Aufhebung des Steuerungsvermögens sprach die Angabe, dass er bewusst am Kopf vorbei geschlagen habe, ausserdem war die Interaktion mit dem Vermieter nicht wahnhaft verzerrt.
Kriminalprognose/Massnahmenempfehlung
Im nächsten Schritt der strafrechtlichen Begutachtung geht es um eine prognostische Einschätzung und bei gegebenem Risiko weiterer Straftaten um Ausführungen dazu, ob und unter welchen Umständen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, die dieses Risiko senken können. Aussagen zum Rückfallrisiko können je nach Deliktspektrum unter Zuhilfenahme standardisierter Beurteilungsinstrumente getroffen werden, die zum Teil Aussagen zum statistischen Rückfallrisiko ermöglichen oder die professionelle Beurteilung durch Vorgabe von relevanten Kriterien unterstützen [11]. Entscheidend bleibt jedoch die Individualprognose [12], die auf einer sorgfältigen psychopathologischen Fallanalyse basiert [13]. Diese berücksichtigt in Anlehnung an Rasch [14] die Biographie, das Delikt mit seinen Hintergründen, die postdeliktische Entwicklung und den zu erwartenden sozialen Empfangsraum.
Der enge Zusammenhang zwischen dem Asperger-Autismus und dem Delikt macht deutlich, dass die Kriminalprognose entscheidend von diesem Störungsbild beeinflusst wird. Dabei liessen die fortbestehenden Defizite und die weiterhin unklare psychosoziale Perspektive, bei dem zeitlebens schon unter Alltagsbedingungen deutlich beeinträchtigten Herrn M., weitere Schwierigkeiten erwarten. Dass diese im schulischen Kontext, im Kontakt zur Mutter zu Drohungen bzw. verbaler Aggressivität und nun im Streit mit dem Vermieter nochmals intensiver auch zu einer Gewalthandlung geführt hatten, liess erwarten, dass Ähnliches auch in Zukunft im Kontakt mit Personen aus dem sozialen Nahraum passieren wird.
Andererseits wurde bei der postdeliktischen Untersuchung deutlich, dass Herr M. zwar in seiner Kontaktfähigkeit eingeschränkt ist, jedoch seine Gedankengänge und emotionalen Zustände sowie seine Beeinträchtigungen offen kommunizieren kann und auch will. Durch die gestellte Diagnose war er deutlich entlastet und zeigte eine Einsicht in die Problematik seines Verhaltens. Er äusserte den Wunsch, einen anderen Umgang mit der Störung zu finden und seine psychosoziale Leistungsfähigkeit zu verbessern. Da trotz einer langjährigen Vorgeschichte von Verhaltensproblemen keine adäquate Diagnose erfolgt war, konnte Herr M. vor der Inhaftierung nicht von gezielten Edukations-, Behandlungs- und Fördermassnahmen profitieren. Bei Wunsch und Offenheit der Betroffenen ist die sozio-emotionale Entwicklungsfähigkeit bei Asperger-Betroffenen zeitlebens gegeben [15 Grandin 2012]. Im Gutachten wurde es daher als realistisch erachtet, dass Herr M. bei Verständnis für seine autistische Störung in einer geeigneten Umgebung gezielt am Aufbau psychosozialer Kompetenzen arbeiten kann, um seine bisher ungenügend spezifisch geförderte Sozialentwicklung aufzuholen. Dies sollte das Risiko von Überforderungssituationen mit aus einer Hilflosigkeit resultierenden Aggressionshandlungen reduzieren und seine Kriminalprognose entscheidend verbessern.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Correspondence
Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer
Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31
CH-8032 Zürich
elmar.habermeyer[at]pukzh.ch
Literatur
1 . Unerkannt und unverstanden? Die „nichtautistischen“ Autistinnen und Autisten im Erwachsenenalter. Psychoscope. 2021;2:22–5.
2 . Neue Autismus-Theorien – Bedarf es noch des Schizoidie-Konzepts? In: Dammann G, Kernberg O, Herausgeber. Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung. 1. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer; 2018. S. 95-113.
3 WHO Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10. Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. 3. korrigierte Auflage. Bern Göttingen Toronto Seattle: Verlag Hans Huber; 2004.
4 . Von den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 zur Autismus-Spektrum-Störung in ICD-11. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 2020;48:1–5. PubMed 1422-4917
5 . Autismus-Spektrum-Störungen. In: Habermeyer E, Dressing H (editors). Psychiatrische Begutachtung. 7. Auflage. München-Jena: Urban & Fischer; 2021. S. 183-192.
6 . Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht. Stuttgart: Georg Thieme; 2017.
7 . Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung. In: Dressing H, Habermeyer E, Herausgeber. Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Arzte und Juristen. 7. Auflage. München-Jena: Urban & Fischer; 2021. S. 85-150.
8 . Schuldbegriff. In: Niggli MA, Wiprächtiger H., Herausgeber. Basler Kommentar Strafrecht I. 4. Auflage. Basel: Helbing; 2019. S. 277-282.
9 . Zur forensischen Anwendung des Begriffs Einsichtsfähigkeit. Fortschr Neurol Psychiatr. 2004 Nov;72(11):615–20. http://dx.doi.org/10.1055/s-2003-812531 PubMed 0720-4299
10 . Qualifizierung und Qualitätskontrolle in der forensischen Psychiatrie. Forens Psychiatr Psychol Kriminol. 2012;6(4):258–65. http://dx.doi.org/10.1007/s11757-012-0182-3 1862-7072
11 . Die Begutachtung der Kriminalprognose (Risikobeurteilung und –handhabung). In: Dressing H, Habermeyer E, Herausgeber. Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Arzte und Juristen. 7. Auflage. München-Jena: Urban & Fischer; 2021. S. 459-485.
12 , StrA, 4.12.2015, 6B_424/2015, E.3.3. (2015). Online verfügbar unter: 6B_424/2015 04.12.2015 - Schweizerisches Bundesgericht (bger.ch)
13 . Begutachtung der Kriminalprognose. Spielt die Psychopathologie noch eine Rolle? Forens Psychiatr Psychol Kriminol. 2010;4(4):258–63. http://dx.doi.org/10.1007/s11757-010-0080-5 1862-7072
14 . Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko. In: Schwind H-D, Berz U, Herausgeber. Festschrift für Günter Blau zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1985. Berlin: de Gruyter; 1985. S. 309-326.
15 . Different... not less. Arlington: Future Horizons, 2012.
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