Interview

Neues Integriertes psychosomatisches Versorgungsmodell am Kantonsspital St.Gallen (K+L-Dienst)

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2021.03324
Publication Date: 01.11.2021
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2021;173:w03324

Studer Karl, Hämmerli Keller Katja, Schmid Dagmar

Interview mit Dr. phil. Katja Hämmerli Keller, leitende Psychologin, und Dr. med. Dagmar Schmid, Leiterin der Klinik für Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie am Kantonsspital St. Gallen.

Karl Studer: Welche Bedeutung hat die Psychosomatik im schweizerischen Gesundheitswesen?

TeamPsychoSomatik KSSG (TPSSG): Die Psychosomatik ist unbestritten eine wichtige Querschnittsdisziplin, deren Stellenwert in der Gesundheitsversorgung sowie in der Forschung international anerkannt ist [1–3]. Die Wichtigkeit und Aktualität zeigen sich beispielsweise im laufenden internationalen Projekt zur psychosomatischen Versorgungsleistung während der Corona-Pandemie der Europäischen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (EAPM) oder dem Pilotprojekt der Stiftung der Gesundheitsförderung Schweiz in vier Kantonen zur Prävention mit Evidenz in der Praxis (PEPra) u.a. zur Prävention von psychischen Erkrankungen in der Arztpraxis.

Psychosomatik beschreibt eine ganzheitliche Sichtweise der Medizin [4–6]. Auch in der Hausarztmedizin wird der Psychosomatik zunehmend mehr Bedeutung zugemessen [7]. In den Praxen für Allgemeinmedizin berichten mindestens 20-30% aller Patienten über psychosomatische Beschwerden in fachspezialisierten Praxen sogar deutlich mehr [8]. Hausärzte gelten auch für psychische Erkrankungen oft als die erste und wichtigste Anlaufstelle [9].

Neben den psychiatrischen Kliniken bieten an der Schnittstelle zu somatischen Beschwerden Rehabilitationskliniken sowie psychosomatische Kliniken Behandlungsangebote an. In den somatischen Spitälern sind die psychiatrischen bzw. die seltener etablierten psychosomatischen Konsiliar- und Liaisondienste für die Versorgung der Patienten mit somatopsychischen Beschwerden oder manifesten psychiatrischen Begleiterkrankungen zuständig.

Im Hinblick auf die Wichtigkeit der Schnittstelle zwischen Akutsomatik und Psychiatrie wurde im Rahmen von «Gesundheit 2020» durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Situationsanalyse in Auftrag gegeben [10]. Diese zeigt die Herausforderungen in der koordinierten Versorgung von psychisch erkrankten Personen mit zusätzlicher körperlicher Erkrankung auf und leitet davon prioritäre Handlungsbereiche ab. Daraus wurden Massnahmen für die Verbesserung und Sicherstellung der koordinierten Versorgung an dieser Schnittstelle definiert. Die Ergebnisse zeigen eindrücklich, dass über 70% der Personen mit hoher psychischer Belastung und rund 73% der Personen mit starken Depressionssymptomen zusätzlich an ausgeprägten körperlichen Beschwerden leiden [11]. Weiter nehmen Patienten mit psychiatrischer Diagnose (F-Diagnosen gemäss ICD-10) in einer stationären somatischen Institution deutlich mehr Leistungen in Anspruch als die Gesamtbevölkerung [12]. Allgemein haben psychisch erkrankte Personen eine um 10 bis 25 Jahre geringere Lebenserwartung, wofür eine ungenügende Diagnose und Behandlung von körperlichen Begleiterkrankungen eine zentrale Ursache darstellt [13]. Die Ergebnisse der Analyse zeigen einen hohen Handlungsbedarf hinsichtlich einer koordinierten Versorgung von psychisch-somatisch komorbiden Patienten auf. Daraus wurden folgende vier wichtige Handlungsfelder definiert: 1) Stigmatisierung und Diskriminierung, 2) Wissen, 3) Diagnostik und Behandlung und 4) Versorgungssystem und Struktur.

KS Wie werden diese Erkenntnisse am KSSG umgesetzt?

TPSSG: Integrierte Versorgungsmodelle, mit Liaisonarbeit in den jeweiligen somatischen Fachteams, wie das von der Klinik für Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie am Kantonsspital St.Gallen, leisten einen substantiellen Beitrag im Hinblick auf die oben genannten Handlungsfelder. Im Rahmen des Konsiliar- und Liaisondienstes werden Patienten bei uns im Akutspital mit psychischen Beschwerden in einem, in mehrfacher Hinsicht, innovativen Versorgungsmodell behandelt. So besteht ein Tandemsystem von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in der Behandlung der Patienten. Dadurch werden einerseits zusätzliche Fachkompetenzen psychologischer Psychotherapeuten integriert und andererseits entspannt es den Nachwuchsmangel an psychiatrischem Fachpersonal. In gemeinsamen Fallbesprechungen, Visiten und Supervisionen profitieren beide Fachdisziplinen, wie auch die Kolleg:innen der somatischen Medizin und die Pflege. In der Liaisonarbeit beteiligen sich die Psychosomatik-Fachleute neben der regelmässig beratenden Tätigkeit der einzelnen Stationen auch an der Schulung des ärztlichen und pflegerischen Personals, an der Supervision von medizinischen Teams sowie der Unterstützung von Angehörigen.

KS: Hat sich hier eine gewisse Spezialisierung entwickelt?

TPSSG: Das für alle Kliniken bestehende Konsil-Angebot wird ergänzt durch die Liaisonarbeit, d.h. die integrierte Versorgung in Kliniken wie der Nephrologie, der Kardiologie, der Palliativmedizin, im Schlaf-, Adipositas- und im Schmerzzentrum. Zusätzlich wurden gemeinsame interdisziplinäre Spezialsprechstunden etabliert, wie in der Psychosomatischen Gynäkologie und Neurologie. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit neben den Kurzinterventionen auf den Stationen auch längerdauernde, intensivere Behandlungen im Sinne einer Behandlungskontinuität anzubieten. Auch bei der Zertifizierung des ersten Tumorzentrums, wie z.B. dem Gynäkologischen Krebszentrum am Kantonsspital St.Gallen, ist die Psychosomatik integraler Bestandteil. Schliesslich begleiten Forschungsprojekte die Angebote und tragen zur Weiterentwicklung dieses Versorgungsmodells bei, z.B. eine aktuelle Studie zur «Psychotraumatologie in der Somatischen Medizin», die u.a. auch Aspekte der Arzt-Patienten-Kommunikation im Hinblick auf Diagnostik und Behandlung untersucht, oder eine digitale Version psychosomatischer / «Mind-Body»-Interventionen.

KS: Welche Bedeutung hat dieses Versorgungsmodell?

TPSSG: Das gut etablierte Versorgungsmodell erweist sich im Hinblick auf mehrere Aspekte als gewinnbringend: 1) Integrative und interdisziplinäre Patientenbehandlung, wodurch die Liegedauer und die Kosten reduziert werden; 2) Nutzung der ergänzenden Kompetenzen der psychologischen Psychotherapeuten, was eine Bereicherung darstellt und dem Ärzte- und Nachwuchsmangel in der Psychiatrie entgegenwirkt; 3) Förderung von Kompetenzen in der Zusammenarbeit als auch in der Schulung von medizinischem Fachpersonal.

KS: Welches sind die Voraussetzungen für Kompetenzen?

TPSSG: Verschiedene Voraussetzungen zur Umsetzung eines solchen innovativen Konsiliar- und Liaisonmodells müssen gegeben sein. Es braucht strukturierte Abläufe in einem Team, wie es in der Klinik für Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie am Kantonsspital St. Gallen etabliert wurde. Verantwortlich sind ein ärztliche:r sowie psychologische:r Psychotherapeut:in gemeinsam in der Leitung des K+L (Konsiliar- und Liaison) -Kompetenzteams. Der Tagesdienst wird neben der/dem diensthabenden ärztlichen Kolleg:in durch eine:n psychologische:n Fachkolleg:in ergänzt. Täglich finden ein Morgen- und ein Mittagsrapport sowie ergänzend separate Einzelbesprechunge statt insbesondere bei Fachkolleg:innenn in Ausbildung. Interne und externe spezifische Supervisionen dienen der Reflektion und der Qualitätssicherung der K+L-Tätigkeit. Eine eigens erstellte Broschüre mit Fachinformationen zu den verschiedenen Themen des K+L unterstützt die konkrete Arbeit auf den Stationen. Eine psychotherapeutische Grundhaltung und Kommunikation im K+L-Team, wie auch ein medizinisches Grundverständnis bei den psychologischen KollegInnen sind Voraussetzung für die gemeinsame Zusammenarbeit.

KS: Wie kommen Sie zu diesen Fachkompetenzen?

TPSSG: Unsere ärztlichen sowie – als schweizweites Novum – auch zwei der psychologischen Psychotherapeuten nehmen am Weiterbildungscurriculum der Universität Zürich zur Erlangung des Schwerpunkttitels Konsiliarpsychiatrie teil. Bislang sind psychologische Psychotherapeuten für die Kursteilnahme, nicht aber für die Zertifikatsprüfung/Titelerlangung zugelassen, was sicherlich zukünftig zu diskutieren lohnte. Ebenso stellt die Mitgliedschaft/Vorstandstätigkeit in Fachgesellschaften wie der Schweizerischen Gesellschaft für Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie (SSCLPP) oder der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) einen wichtigen Faktor für Austausch und Vernetzung dar. 

Psychosomatische Fachkompetenz, die neben psychiatrisch-psychotherapeutischer Ausbildung für beschriebene Versorgungsmodelle wichtig ist, wird für ärztliche Fachkolleg:innen an den Universitäten Zürich, Bern und Basel durch zweijährige Psychosomatik-Curricula angeboten. Auch im Medizinstudium werden, je nach Universität, modulare Kurse oder Blockkurse in Kommunikation und Psychosozialer Medizin über mehrere Semester hinweg angeboten. Die wachsende Nachfrage in der Weiterbildung von psychologischen Fachkollegen zeigt sich z.B. in einem CAS der Universität Basel zu Psychopathologie und psychiatrischer Diagnostik sowie einer Weiterbildung in Psychopharmakologie. An der Berner Fachhochschule wird ein CAS Studiengang in Psychosomatik für Pflege- und Therapiepersonal angeboten. Dennoch steckt in der Schweiz bei den postgradualen Psychologie-Studiengängen zum eidgenössischen Weiterbildungstitel die Vermittlung von psychosomatischem/somatopsychischem Fachwissen noch in den «Kinderschuhen». Die Vermittlung von medizinischem und (psycho-) pharmakologischem Grundwissen sollte auch in der Psychologischen Ausbildung integraler Bestandteil werden.

KS: Ist dieser Trend auch in der gesamten Schweiz zu erwarten?

TPSSG: Insgesamt zeigt sich in der Schweiz in den letzten zehn Jahren eine enorme Entwicklung in der K+L- Psychiatrie / Psychosomatik sowie ein Zuwachs an Fachkräften, welche in rund dreissig anerkannten K+L-Zentren in der Schweiz ausgebildet werden [14]. Die veränderte politische und klinische Versorgungssituation mit zunehmendem Bettenabbau in den Kliniken, mit der Verlagerung in ambulante Versorgungseinrichtungen, der verstärkten Relevanz der hausärztlichen Betreuung sowie dem Mangel an psychiatrischem Fachpersonal fordert neue Versorgungsmodelle. Eine integrierte, interdisziplinäre Versorgung braucht es genauso wie die hochspezialisierte Medizin. Das in der Klinik für Psychosomatik und Konsiliarpsychiatrie des Kantonsspitals St.Gallen etablierte Versorgungsmodell stellt eine erfolgreiche Umsetzung in der Praxis dar. Um ein solches Versorgungsangebot langfristig aufrechterhalten und der steigenden Nachfrage gerecht werden zu können, braucht es dringend Anreizsysteme und verbesserte Weiterbildungsangebote sowohl für Fachärzt:innen als auch Fachpsycholog:innen. Dies wurde auch in der BAG Studie zur Schnittstelle Somatik-Psychiatrie [10] u.a. im Handlungsfeld «Versorgungssystem und Struktur» mit der Anerkennung der zentralen Bedeutung von K+L-Diensten und der Sicherstellung der Finanzierung gefordert. Zukünftig sind Weiterentwicklungen solcher Ansätze vorstellbar zum Einen im Ausbau psychosomatischer Fachkompetenzen in der Ausbildung von Somatiker:innen und medizinisch interessierten Psycholog:innen und zum Anderen in der Integration von K+L-Diensten in der Hausarztmedizin bzw. gemeinsamen Assistenz-Rotationsstellen.

KS: Welche Empfehlungen möchten Sie gerne an die Kolleginnen und Kollegen an anderen somatischen Spitälern weitergeben?

TPSSG: Ein wichtiger erster Schritt ist die Offenheit für neue Wege, die Neugier und Bereitschaft, über den Tellerrand zu schauen und Synergien zu entdecken, wo aktuell Berührungsängste und Vorurteile ein gemeinsames Entwickeln neuer Konzepte verhindern. Eine psychosomatische Grundhaltung kommt v.a. unseren Patient:innen zugute. Durch das ganzheitliche Betrachten einzelner Beschwerden kann manch unnötige und aufwendige Diagnostik vermeiden bzw. durch parallele psychiatrisch-psychosomatische Diagnostik sinnvoll ergänzt werden. Nicht zuletzt belegen Erkenntnisse neuer biologischer Forschung, dass die Psychosomatische Medizin eine klinische Gegebenheit/Erfordernis ist. Die Zukunft des klinischen wie auch finanziellen Bereichs wird gemeinsam/interdisziplinär besser und sinnvoller zu meistern sein.

Correspondence

Dr. med. Karl Studer

Praxis im Klosterhof

Klosterhofstrasse 1

CH-8280 Kreuzlingen

karl.studer[at]bluemail.ch

References

1. . The European Network on Psychosomatic Medicine (ENPM) - history and future directions. Biopsychosoc Med. 2017 Jan;11(1):3. http://dx.doi.org/10.1186/s13030-016-0086-0 PubMed 1751-0759

2. . Psychosomatik und Psychiatrie. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2017;168(5):154–5. http://dx.doi.org/10.4414/sanp.2017.00512 2297-6981

3. . Psychosomatische Forschung in der Schweiz und Implikationen für die Versorgung. Prim Hosp Care. 2018;18(22):399–403. http://dx.doi.org/10.4414/phc-d.2018.01865 2297-7163

4. . The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science. 1977 Apr;196(4286):129–36. http://dx.doi.org/10.1126/science.847460 PubMed 0036-8075

5. . Psychosomatische Grundversorgung, Springer.2016; 2. Auflage.

6. . Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München. 2018; 8. Auflage.

7. . Psychosomatik: Schnittstelle zwischen Hausarztmedizin und Psychiatrie. In: Böker H, Hoff P (eds.); Psychosomatik heute.1st ed. Hogrefe Verlag, Bern; 2019. p.319–28.

8. . Psychische Erkrankungen und ihre Behandlung in Allgemeinarztpraxen in Deutschland: Ergebnisse aus einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Nervenarzt. 1996 Mar;67(3):205–15. PubMed 0028-2804

9. . Psychosomatische Grundversorgung in der Hausarztpraxis : jeder zweite Patient hat psychische Probleme. MMW Fortschr Med. 2011 Jan;153(3):25–7. http://dx.doi.org/10.1007/BF03367652 PubMed 1438-3276

10. . Koordinierte Versorgung für psychisch erkrankte Personen an der Schnittstelle «Akutsomatik – Psychiatrie resp. psychiatrische Klinik» – Schlussbericht. socialdesign ag im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), April 2017, Bern. 2017.

11. . Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016 (Obsan Bericht 72). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 2016.

12. . «Heavy Use» in der stationären Psychiatrie der Schweiz? Ergebnisse aus der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser (Obsan Dossier 11). Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. 2010.

13. . Somatische Pflege in psychiatrischen Einrichtungen: Quo vadis? In: Psychiatrische Pflege. 2016;1(3-4):13–5.

14. . C-L psychiatry in Switzerland: what’s-up ten years after the implementation of a C-L subspecialty? J Psychosom Res. 2020 May;132:109978. http://dx.doi.org/10.1016/j.jpsychores.2020.109978 PubMed 1879-1360

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