Invited book review
Daniel Hell:Lob der Scham
Buchreihe: Sachbuch Psychosozial.
Giessen: Psychosozial-Verlag; 2018.
248 Seiten.
Preis: 24,90 Euro.
ISBN-13: 978-3-8379-2810-5.


In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 3. Juli 2021 wird ein «Lob der Scham» gesungen, von einem Philosophieprofessor aus Graz. Er spricht der «seelischen Einkehr in das Geschehene» das Wort und zitiert Theodor Heuss: ‹Und dies ist unsere Scham, dass sich solches im Raume der Volksgeschichte vollzog, aus der Lessing und Kant, Goethe und Schiller in das Weltbewusstsein traten. Diese Scham nimmt uns niemand, niemand ab›. Der Autor fährt weiter unten fort: «Es scheint für das Verständnis der Humanisierung mitmenschlicher Verhältnisse nicht unwesentlich, ob die Befähigung zur Scham als zivilisatorischer Antrieb eine Rolle spielt. Denn mit dieser Befähigung geht einher die Neigung zur solidarischen Öffnung, hin auf fremde, unser ererbtes Misstrauen weckende Lebensformen.»In der Scham bleibt die Schuld dem Erleben gegenwärtig.Der kurze kulturkritische Aufsatz des «alten weissen Mannes» zielt auf ein Genaunehmen der (historischen) Realität ab, das unter der «political correctness» zugrunde gehen könnte.
Nun ist hier ein Buch anzuzeigen, das der genauen Beschreibung unserer Gefühlszustände dient und die Scham zum Thema macht. Der Titel «Lob der Scham» ist ja (wie auch im erwähnten Zeitungsartikel) eine Anspielung auf das «Lob der Dummheit» des Erasmus von Rotterdam. Dieser schrieb aber ironisch über die «Vorteile» der Dummheit. Unserem Autor ist es aber ernst: Wer sich schämt, stellt sich selbst in Frage. Er verhält sich, als habe er etwas zu verbergen. Das heisst aber nicht zwingend, dass Scham nur hinderlich ist und keine wichtige Aufgabe im Leben erfüllt (S. 7). Daniel Hell hat sein Buch über die Scham von 2018 aktualisiert und erweitert, und, wie mir beim genauen Nachprüfen der Unterschiede in «Einleitung und Übersicht» aufgefallen ist, erheblich umformuliert. Die neue Version richtet sich sogar nicht mehr an dasselbe Publikum wie die erste, sondern an ein breiteres, weniger fachlich informiertes. So fragt er: «Wie kann man (…) Scham loben, wie es der Buchtitel tut? Und wie kann man – wie es im Untertitel heisst – Scham mit Selbstachtung in Zusammenhang bringen, wenn dieses Gefühl so schändlich ist und mit einer Krise der Selbstachtung einhergeht? Scham ist doch als ‹negative Emotion› möglichst zu vermeiden …» (S. 7).In der ersten Auflage waren die Formulierungen kürzer und setzten mehr voraus als jetzt. (Das «Wesentliche der Scham ist damit nicht erfasst», hiess es da lapidar.)
Im zweiten der neun Kapitel präsentiert Daniel Hell die Themen, die in den folgenden Kapiteln wieder aufgenommen, ergänzt und vertieft werden. Dabei greift er auf seine grosse Erfahrung als psychoanalytischer Therapeut, universitärer Lehrer und Klinikchef zurück und präsentiert den Stoff gekonnt in all seinen Facetten. In der Schlussfolgerung des dritten Kapitels steht: «Scham brennt». Wer sich schämt, spürt sich intensiv, und zwar gerade dann, wenn seine Selbstachtung einzubrechen droht. Er ringt mit sich selbst. Hell grenzt das Phänomen der Scham vom Narzissmus ab. Beim Narzissmus herrscht aber Spaltung und Projektion vor (könnte man in der Fachsprache, die Hell möglichst vermeidet, abgekürzt sagen), während in der Scham das Realisieren der eigenen Unvollkommenheit mehr Gewicht hat.
Im Gegensatz zur Dummheit, die Erasmus lobt, ist das Lob der Scham wirklich am Platz.Scham und Schuldgefühl werden sorgfältig unterschieden (S. 110 f.) und die neurobiologischen Befunde (S. 112 f.) diskutiert. Scham als Seismograph des «Selbst» fördert nicht, sondern hemmt Narzissmus (S. 113). Auf die zwiespältige Struktur der Scham und vieles andere kann hier nicht eingegangen werden, obwohl alle angesprochenen Gesichtspunkte einschliesslich philosophischer Erörterungen (Scheler, Sartre, S. 119 ff., Anders S. 240 f.) die Wichtigkeit des Themas beweisen. Hell ergänzt die eigenen Fallvignetten durch besonders eindrückliche von Leon Wurmser und anderen Autoren (S. 124 ff.).
Wie schon angetönt, geht das Buch weit über ein psychiatrisches Fachbuch hinaus, was nicht nur für die Fachkolleg:innen ein Gewinn ist. Der Abschnitt «Schamangst: Das Geschäft (…)» (S. 237 ff.) bringt eine aktuelle Kulturkritik (Riesman, Lyotard S. 237), ebenso wie schon der vorhergehende («Burnout» S. 233 und «Soziale Scham» S. 213) und das ganze neunte Kapitel auch.
Das Buch ist allen zu empfehlen. Und es lohnt sich auf alle Fälle, die dazu nötige Geduld und Ausdauer aufzubringen.
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