Editorial

Ein forensischer Schwerpunkt: Relevant für die Allgemeinpsychiatrie!?

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2022.03318
Publication Date: 01.01.2022
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2022;173:w03318

Habermeyer Elmar

Das Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie weist eine über 100-jährige Tradition auf und der Autor dieser Zeilen ist stolz, diese anerkannte und praxisrelevante Fachzeitschrift mitbetreuen zu dürfen. Nun wende ich mich erstmals im Rahmen eines Editorials an Sie und nutze die Gelegenheit, eine Ausgabe mit einem forensisch-psychiatrischen Themenschwerpunkt vorzustellen.

Die zunehmend spezialisierten Aufgaben und der sich nachfolgend entwickelnde spezifische Wissenszuwachs in diesem Bereich (z.B. hinsichtlich kriminalprognostischer Methoden) haben dazu beigetragen, dass sich die Forensische Psychiatrie als psychiatrisches Schwerpunktfach etablieren konnte. Diese Entwicklung ist zu begrüssen, birgt aber auch Risiken, denn durch die Ausgliederung aus allgemeinpsychiatrischen Versorgungsstrukturen sind die früher regelmässigen Kontakte zur Allgemeinpsychiatrie gefährdet. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Allgemeinpsychiatrie Wissensbestände verloren gehen, die von Bedeutung für das Fach sind. Die psychiatrische Subdisziplin Forensische Psychiatrie wiederum, die an der Schnittstelle zur Justiz operiert, ist ohne feste Bezüge zum Mutterfach in Gefahr, seine psychiatrisch-psychotherapeutische Identität zu verlieren, was einer Instrumentalisierung durch die Justiz/Politik Vorschub leisten kann. Vor diesem Hintergrund tun beide Disziplinen gut daran, den Austausch zu pflegen. Entsprechend soll die vor Ihnen liegende Ausgabe die vielfältigen Berührungspunkte zwischen Allgemeinpsychiatrie und Forensischer Psychiatrie beispielhaft illustrieren, zum Nachdenken über gemeinsame Herausforderungen und optimaler Weise auch zur Zusammenarbeit anregen.

Eine dieser, durchaus auch herausfordernden Verbindungen liegt in der Gewaltbereitschaft mancher Patienten und Patientinnen begründet, mit der sich eine Übersichtsarbeit von Fanny de Tribolet et al. auseinandersetzt. Die Arbeit macht deutlich, dass es im heterogenen Feld psychischer Störungen durchaus Risikogruppen für Gewalthandlungen gibt, dass aber das Phänomen Gewalt weniger ein psychiatrisches Problem als vielmehr eine gesellschaftliche Herausforderung ist und bleibt. Dennoch soll die Arbeit aber auch dazu motivieren, sich mit möglichen Risikomerkmalen auch im allgemeinpsychiatrischen Arbeitsalltag auseinanderzusetzen, um im Rahmen der therapeutischen Möglichkeiten Gewalthandlungen zu verhindern. Ein Beitrag von Steffen Lau befasst sich mit der Beurteilung der Aussagetüchtigkeit von Menschen mit psychischen Störungen. Der Autor macht unter besonderer Berücksichtigung der Borderline-Persönlichkeitsstörung deutlich, dass allein das Vorliegen einer psychischen Störung kein Argument dafür ist, den Betroffenen das Recht, in einem Strafverfahren Aussagen zu machen, zu entziehen. Eine sorgfältige Abklärung der Defizite, aber auch erhaltenen Kompetenzen Betroffener schützt diese davor, sich im rechtlichen Kontext nicht ausdrücken zu können und ungerechtfertigter Weise entmündigt zu werden. Dies macht deutlich, dass forensisch-psychiatrische Begutachtungen oftmals im Interesse der Betroffenen sind bzw. sein können. Ähnliches gilt für die therapeutische Arbeit in einem gesellschaftlich hoch relevanten Kontext, nämlich der Jugenddelinquenz. Die Übersichtsarbeit von Leonardo Vertone et al. befasst sich vor dem Hintergrund kriminologischer Daten mit deren psychosozialen Hintergründen und Störungseinflüssen. Sie beleuchtet die evidenzbasierten Arbeitsgrundlagen und therapeutischen Möglichkeiten der Kinder- und Jugendforensik und leistet einen Beitrag zur Versachlichung von in den Medien nicht selten auch polemisch und ohne vertiefte Kenntnis geführten Debatten über die vermeintlich immer gewalttätiger und gefährlicher agierende Jugend. Beim Lesen dürfte deutlich werden, dass die Schweiz auf ihr sehr differenziertes, personen- und therapieorientiertes Jugendstrafrecht stolz sein kann.

Reizvoll am SANP ist die regelmässige Auseinandersetzung mit psychiatrischen Aspekten der Kunst, die auch in dieser Ausgabe von Roman Buxbaum mit einem Beitrag zur Art Brut Fotografie von Miroslav Tichy gepflegt wird. Ausserdem erinnert Stefan Fritsch im Gespräch mit dem Schweizer Wissenschaftshistoriker Alexandre Mêtraux an den 2015 verstorbenen Autor Oliver Sacks. 

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Elmar Habermeyer

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