Editorial

Dialog der Vielstimmigkeit

DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2022.03319
Publication Date: 01.01.2022
Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother. 2022;173:w03319

Sollberger Daniel

Bekanntlich hat die Psychiatrie in der Schweiz – anders als in anderen Ländern – eine lange Tradition der engen Verbindung von Psychiatrie und Psychotherapie, wie er auch im Schweizerischen Facharzttitel zum Ausdruck kommt. Diese Verbindung hat’s in sich, denn sie basiert auf unterschiedlichen Denktraditionen und Denkweisen, Erklärungs- und Verstehensansätzen, sie versucht verschiedenste und kontrovers diskutierte philosophische Grundlagen der Psychiatrie zusammenzuhalten. Schliesslich ist sie auch Ausdruck unterschiedlicher Menschenbilder wie wir sie zumeist in schlicht pragmatischer Absicht mit dem vielzitierten bio-psycho-sozialen Modell in eines zu integrieren versuchen, es dabei aber mehr benennen, denn wirklich zu fassen bekommen. Der als Konglomerat imponierende Name des Bio-Psycho-Sozialen – und manche ergänzen noch das Spirituelle – trägt, so könnte man sagen, den Anspruch in sich, an komplexeren Modellen der Integration zu arbeiten. Die Vielgestaltigkeit, die sich im Fach der Psychiatrie zeigt, betrifft letztlich deren Selbstverständnis und Identität und spiegelt damit zugleich eine nicht zu reduzierende Komplexität unseres eigenen Selbstverständnisses als Menschen.

Die Psychiatrie steht damit auch in Verbindung mit ihren engen Nachbardisziplinen – der Neurologie, der Psychosomatik, der Psychologie – und anderen klinischen Fächern. Darüber hinaus war und ist sie gerade auch in der Schweiz ebenso offen für den Blick in andere und aus anderen Disziplinen nicht-klinischer Provenienz, so etwa der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, der Philosophie, aber auch der Natur-, insbesondere der Neurowissenschaften.

In dieser Tradition versteht sich auch das Schweizer Archiv für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, welches über viele Jahrzehnte von Chefredaktoren und einem breit aufgestellten Redaktionsteam geführt wurde, die ein pluralistisches, dennoch nicht eklektisch-beliebiges Selbstverständnis der Psychiatrie zu pflegen und zu entwickeln wussten. Es ist mir eine grosse Ehre, dass ich seit diesem Jahr neu zusammen mit Professor Daniele Zullino als Chefredaktor des psychiatrischen Teils der Zeitschrift diese Tradition weiterführen darf. Ich habe dieses Amt gerne von Professor Joachim Küchenhoff übernommen, der die Zeitschrift in der Nachfolge von Professor Daniel Hell über viele Jahre geprägt hat im Einsatz für ein integratives und zugleich konturiertes Psychiatrieverständnis. Damit verbinden sich erkenntniskritische Interessen, das heisst Interessen, die sich aufgrund eines reflektierten wissenschaftstheoretischen Verständnisses im eigenen Geltungsanspruch relativieren: Interessen also etwa an neurobiologischen Forschungen und Befunden einerseits, gleichermassen aber auch an Fragen einer verstehenden Psychopathologie, an Überlegungen zur Dynamik der Entstehung psychischer Krankheit beziehungsweise psychischer Resilienz unter Einbezug sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen andererseits sowie an den verschiedenen Schnittstellen und Verbindungen dieser psychiatrischen «Mehrsprachigkeit».

Wir sind in der Psychiatrie (immer noch) weit entfernt von einem integrativen Modell, welches den klassischen Dualismus von naturwissenschaftlichen Kausalitätsvorstellungen und Erklärungen psychischer Prozesse auf der einen Seite und einem auf Sinn und Bedeutung hin ausgerichteten hermeneutischen Verstehen psychischer und sozialer Zusammenhänge auf der anderen Seite in den Humanwissenschaften widerspruchsfrei überwinden liesse. Gefordert und vielfach auch bereits erprobt ist weniger eine metatheoretische Vereinheitlichung, denn vielmehr ein Dialog im Sinn von Wittgensteins «Sprachspielen» (Wittgenstein 1978), welcher die subjektive Erstperson-Perspektive auf Augenhöhe mit der objektivierenden Drittpersonen-Perspektive gelten lässt und sie nicht als Epiphänomen auf letztere restringiert. Ebenso gilt es gerade auch in psychotherapeutischen Kontexten die interaktionellen Aspekte, die Zweitpersonen-Perspektive also, im Blick auf psychische Phänomene und deren Verständnis ernst zu nehmen. Gerne möchte ich mich dafür einsetzen, dass das Schweizer Archiv weiterhin in solch breiter Ausrichtung und thematischer Fächerung eine Plattform bietet für einen wertschätzenden und bereichernden Dialog zwischen den spezifischen Wissenschaften, Forschungsansätzen, klinisch-praktischem Erfahrungswissen und unterschiedlichen Standpunkten, die mit verschiedenen Methoden und Wahrheitskriterien überprüft werden sollen.

Um solche herausfordernde Auseinandersetzungen der Dialogpartnerinnen und -partner aus Forschung, Lehre und klinischer Praxis weiter zu fördern, sind wir in der Redaktion um eine breite Rezeption bemüht. Die Zeitschrift soll insbesondere auch für junge Kolleginnen und Kollegen attraktiv sein als Publikationsorgan ihrer Arbeiten. Gefordert sind Artikel, die einem hohen Qualitätsanspruch genügen, der weiterhin über ein Peer-Review-Verfahren gewährleistet sein soll. Dabei sind wir sehr interessiert an empirischen und englischsprachigen Originalarbeiten, aber auch zugleich überzeugt, dass die Qualität von Forschungsarbeiten sich nicht allein am Grad der empirischen Fundierung und Evidenzbasierung bemisst. Die Redaktion begrüsst also ebenso auch Reviews und Beiträge konzeptueller Art, Theoriediskussionen, Reflexionen philosophischer Grundlagen der Psychiatrie und Psychopathologie sowie der gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe des Fachs, um das gewünschte Profil zu schärfen und die hohe Qualität zu erhalten.

Ich freue mich, mich in den nächsten Jahren für den facettenreichen Dialog mit Autorinnen und Autoren und Ihnen als Leserinnen und Leser einsetzen zu können im Wissen um unsere gute Zusammenarbeit im Redaktionsteam sowie mit dem Verlag.

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