Book review
Gerd Rudolf: Dimensionen psychotherapeutischen Handelns
Psychotherapie kompakt, philosophisch unterlegt
Wäre die menschliche Psyche so simpel, dass wir sie erklären könnten, wären wir so simpel, dass wir es wiederum nicht könnten. Die anzuzeigende Publikation eines «Urgesteins» psychodynamischer Psychotherapie, des emeritierten Professors für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und ehemaligen Direktors der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg sowie Mitbegründers der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD), Gerd Rudolf, könnte sich als Kondensat jahrzehntelangen Engagements für die Sache der psychodynamischen Denkweise verstanden wissen. Implizit erkennt man in dem kurz gefassten Text den Wunsch, ja, vielleicht gar den Anspruch, jungen psychotherapeutisch arbeitenden Kolleg:innen nicht nur einen kompakten Überblick über die Dimensionen psychotherapeutischen Handelns zu geben, sondern darüber hinaus das eigene Denken und Tun in philosophisch-anthropologische Kontexte einzubetten und damit der Welt der Psyche in ihren Tiefendimensionen und ihrer Komplexität gerecht zu werden.


Dimensionen psychotherapeutischen Handelns.
Menschsein in Therapie und Philosophie. Stuttgart: Schattauer, 2023. 160 Seiten, EUR 32.00. ISBN: 978-3-608-40153-0
So nimmt der Text seinen Anfang mit einem «biographischen Vorspiel» – auf welches ich weiter unten eingehen will – und setzt dann mit einer Skizze der Entwicklungslinien psychodynamischen Denkens und Handelns ein, wobei der Autor mit dem Thema der Lebensgeschichte und Identität eine Kernfrage von Patient:innen aufgreift: «Wer bin ich eigentlich?». Und diese Frage legt zugleich den Fokus darauf, wie es zu diesem «Ich» gekommen ist, eine Frage, die schliesslich ihrerseits auch auf die historische Zeit und prägende gesellschaftliche Bedingungen zielt. Letztere führt der Autor einerseits in Form einer gewissermassen fiktiven Bibliothek vor, indem er einerseits an den im Regal aufgereihten Fachbüchern bekannter Autor:innen entlang geht, andererseits fünfzig Jahre Lindauer Psychotherapiewochen (1950-2000) kurz und bündig thematisch Revue passieren lässt. Hauptteil des Buches bildet dann, wie nicht anders zu erwarten, die Darstellung der OPD-Entwicklung, das heisst die psychodynamische Diagnostik. Der Autor führt sie ein über den zentralen Aspekt der psychodynamischen Konzeption von Störung und Behandlung, bei welchem die therapeutische Beziehung im Zentrum steht. Dabei legt er besonderen Wert auf die Unterscheidung zwischen konfliktneurotischen und strukturellen Störungen, für ein konzeptuelles Verständnis letzterer er sich in besonderem Mass über Jahrzehnte in der OPD engagiert hatte. Hier macht der Autor – wie in seinen früheren Lehrbüchern detailliert ausgeführt – besonders darauf aufmerksam, dass bei Menschen mit einer strukturellen Störung sich therapeutische Besonderheiten ergeben: Eine eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstreflexion, ein eingeschränktes Affekterleben und affektive Bezugnahme zu anderen, denen sie sich tendenziell ausgeliefert sehen, dann ein Fehlen von handlungsleitenden Wertvorstellungen und schliesslich ein Gefühl der Andersheit bedingen, dass in den Therapien, anders als im konfliktneurotischen Fall, diese Kompetenzen zunächst aufgebaut werden müssen – was tendenziell ein Defizitmodell der Persönlichkeitsentwicklung suggeriert.
Über die psychosomatischen Wechselwirkungen (beispielhaft das Phänomen des Schmerzes) mündet der Text schliesslich in philosophische Fragestellungen, die zunächst in der Jaspers’schen Theorie der Achsenzeit verortet werden, wonach 5000 Jahre v.Ch. unabhängig voneinander in verschiedensten Weltregionen selbstreflexives Wissen und Nachdenken einsetzte. Obwohl Jaspers der Psychoanalyse sehr kritisch gegenüberstand, wird er dem Autor, der sich mit seinem eigenen Werk über Jahrzehnte der psychodynamischen Denkweise verpflichtet sah und sieht, ein wichtiger Referenzpunkt und innerer Gesprächspartner in der Verortung der psychodynamischen Psychotherapie in ihren weiter gefassten philosophischen Grundlagen.
Und so lässt sich in diesem relativ kurz gefassten Text eine sehr persönliche, geradezu autobiographische Arbeit des Autors erkennen, die er selbst mit einer gewissen ironischen Brechung vorträgt. Er verwendet dazu einen dramaturgischen Kniff, indem er in den Gang des Textes kurze dialogisch verfasste Gespräche eines gewissen Erik mit dessen fiktiven Nichte einstreut, eine Nichte, die bereits selbst Psychotherapeutin geworden ist und viele Fragen an den Onkel hat. Dies gibt dem Text die kleine ironische Note, indem der erfahrene Senior, der eher grossväterlich wirkt, sich in seiner didaktischen Leidenschaft zeigt, während die junge Kollegin zwar eigenwillig, zuweilen aber doch etwas gar naiv dargestellt ist. Das wirft grundsätzlich die Frage nach dem Adressat:innenkreis des Buches auf. Denn für bereits ausgebildete Psychotherapeut:innen sind die Ausführungen angesichts der vielen und umfassenden Publikationen des Autors inhaltlich gar oberflächlich, zum Teil schon fast banal (z.B. das Kapitel zur Psychosomatik), während der Text für ein interessiertes Laienpublikum mit dem fachspezifischen Fokus auf die OPD zuweilen etwas schulmeisterlich wirkt.
Was die philosophische Einbindung der Gedanken angeht, wird zwar das Anliegen und auch der Anspruch des Autors deutlich, nämlich das psychotherapeutische Tun in einen umfassenderen Kontext von Überlegungen zur Conditio humana einzubetten. Der Autor, der sich im Hauptteil des Buches mit der individuellen psychotherapeutischen Perspektive auf Patient:innen beschäftigt, weist hier nochmals mit Nachdruck darauf hin, dass immer ein zentraler sozialmedizinischer Aspekt den (auch philosophischen) Hintergrund des Verstehens bildet, den zu bedenken hilft, Patient:innen in ihrem Menschsein zu begegnen. Des Autors Synopsis anthropologisch-philosophischer Aspekte (biologische, Beziehungs-, Selbstreflexions-, soziale, kommunikative, wissenschaftliche, politische und schliesslich kreativ-künstlerische Aspekte) kann dabei als eine Art Skizze zur Ausarbeitung dieses breiteren Denkhintergrunds gelesen werden. Allerdings bleiben die als philosophisch benannten Abschnitte des Buches insgesamt mehr eine aphoristisch wirkende Zitation von Aussagen unterschiedlichster Philosophen oder bestehen gar im blossen «Namedropping» der dem Verfasser liebgewonnenen Autoren.
Schliesslich scheint dem Rezensenten das Lektorat des Buches nicht sehr sorgfältig erfolgt zu sein, wenn es abgesehen von doch einigen Druckfehlern immer wieder Redundanzen gibt, die z.T. auch in Form von wortwörtlichen Wiederholungen ganzer Textpassagen zu finden sind (siehe S. 82 und S. 100).
So gibt das sehr persönliche Buch einen schmalen Einblick in die philosophischen Beschäftigungen eines verdienten psychodynamischen Denkers und Psychotherapeuten, muss damit aber selbstredend weit hinter den fundierenden Ausführungen zur Konzeption struktureller Störungen und deren Therapie früherer umfangreicher Arbeiten zurückbleiben, während es umgekehrt aber auch nicht wirklich eine philosophische Tiefe zu erreichen vermag.
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